dass ich tatsächlich nach wien gezogen bin, erscheint mir unwirklich im nachhinein. auf dieser wienreise habe ich mich von meinem mann getrennt oder der sich von mir, so genau kann man das nicht mehr sagen. jedenfalls bin ich noch immer da. non, je ne regrette rien. es ist august und sonntagnachmittag, die sonne glüht. es ist heiß im prater. mir ist heiß. ein blechtisch mit zwei stühlen, frei und im schatten. vom kellner werde ich nicht unbedingt freundlich empfangen, aber salz, pfeffer und die maggiflasche stehen in dreifaltigkeit bereit. ich mache mich schmal unter dem sonnenschirm und bekomme schnell ein seidl gösser. rettung.
ein großer tisch im gastgarten ist noch frei. ein einziger. er glüht in der sonne, man könnte spiegeleier und speck darauf braten.
zwei alte setzen sich. noch zwei kommen dazu. man leidet gemeinsam „so eine hitz, so ein durscht“ und kommt auf die gute idee, an vier ecken anzupacken und den tisch in den schatten zu rücken. naheliegend. zwei meter nur, ein guter platz. die kinder kommen dazu. enkel auch. da sitzen sie. sonntagsausflüglerisch erwartungsvoll. aber der kellner lässt sich nicht blicken. kommt und kommt nicht. winken. rufzeichen. endlich kommt einer, ein großer dicker in kurzen lederhosen und durchgeschwitztem hemd. gesichter wieder hoffnungsvoll, münder noch durstiger.
begrüssung: „stellens den tisch dahin zurück, wo er hingehört“. unverständnis: „aber sie wollen doch nicht, dass die kinder in der sonne sitzen“. „stellens den tisch sofort zurück“. protest: „es ist doch nichts im schatten frei“. „sie hören doch, was ich sage: der tisch gehört da und nirgendwo anders hin“. er deutet auf eine stelle in der sonne, dahin, wo der tisch stehen muss.
der kellner dreht sich um, geht weg, die familie rührt sich nicht vom fleck. ist optimistisch, dass der seine meinung ändert, dass die vernunft oder der geschäftssinn die oberhand gewinnt, wenn sie sich nicht rühren. dass der endlich die bestellung aufnimmt und etwas zu trinken bringt. wie erwartet, kommt er zurück. erleichterung macht sich breit. hat jetzt den wirt im schlepptau. auch der groß und dick, der gössermuskel (neu in meinem wortschatz!) füllt auch bei ihm die krachlederne. sein hemd könnte eine wäsche, sein gesicht eine rasur vertragen.
gemeinsam bauen sie sich vor der tischgesellschaft auf. „dann mach ma hoid an bahöl, damit sie es verstehen, damit endlich wieder a ruah is (oder so ähnlich?): bringens den tisch an seinen platz zurück!“ grantelt der, der augenscheinlich mehr zu sagen hat. drohung: „allerhand, wenn wir hier nicht sitzen dürfen, dann gehen wir“. „dann gehns halt.“ das familienoberhaupt steht auf, die anderen tun es ihm nach. grummelnd verlassen sie das lokal. ausflug im oasch.
der kellner und sein chef packen wortlos an und stellen den tisch dahin zurück, wo er hingehört. wo er immer steht. in der prallen sonne. weil ordnung sein muss. ja eh.
das gulasch ist da. „noch ein seidl, bitte!“. „kommt sofort“. lebenselexier.
Veröffentlicht in sfd& tiere, zeitschrift der schule für dichtung wien #04 (isbn 978-3-9505119-1-8 Ö/ Herbst 2022)
schwarze katzen hat er nie, bringen pech. und schwarze katzen von links nach rechts großes pech. klare regeln: nur zwei katzen. zwei werden mit nudeln und soße, wurstzipfeln und altem brot in verdünnter milch gefüttert. kleine portionen, die ihre Bäuche nicht füllen, denn sie sind für die jagd da. nach mäusen im gartenhaus. nach ratten, die vom Bach heraufkommen. zwei katzen deshalb, weil es passieren kann, dass eine auf der großen straße liegen bleibt. noch mehr pech dann.
wenn eine junge kriegt, versteckt sie sie im gartenhaus oben zwischen den dachbalken oder ganz hinten im heu. ich wünsche mir dann, dass er die kätzchen einmal nicht findet. aber er kennt alle verstecke und kein pardon. er sammelt die frisch geborenen ein, nimmt sie an den hinterbeinen und schlägt sie gegen das garagentor, oder er tunkt sie in einen eimer mit kaltem bachwasser, bis sie steif und kalt in seiner hand hängen.
hinter dem haus gibt es das gartenhaus. man nennt es gartenhaus, weil es im garten steht, wo er gemüse, salat, beeren und blumen anpflanzt. man nennt es gartenhaus, obwohl es eigentlich ein stall ist. die beiden katzen wohnen da, ein paar weiße hühner, ein rebhuhnfarbiger italiener gockel und stallhasen, die weiße neuseeländer heißen. es riecht nach heu und gras, nach nassem fell, nach viechern.
daneben die garage. die garage heißt garage, obwohl es sich in wirklichkeit um eine werkstatt handelt, in der er reparaturarbeiten an einer werkbank macht. gar nie steht ein auto darin, immer nur zwei alte fahrräder. ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt einen führerschein besitzt, sie hat ganz bestimmt keinen. als hausfrau braucht sie keinen. die werkstatt heißt jedenfalls garage, weil sie ein garagentor hat und zumindest theoretisch könnte man ein auto dort hineinstellen.
und das garagentor ist wichtig. hühnern schlägt er auf dem hackblock, der draußen vor der garage steht, mit dem beil den kopf ab, zack. kaninchen bekommen einen dumpfen schlag auf den hinterkopf, bamm, knack, halsschlagader durchtrennt, blut und pisse raus. mit dem kopf nach unten werden hennen und hasen an das garagentor gehängt. später wird das fell abgezogen, fellmützenzukunft. sonst trophäe. die hausfrau rupft hennen und göckel.
ich darf zuschauen, schluck. er findet nichts dabei. er sagt, er zieht seine tiere nicht zum vergnügen groß. sie werden verkauft. oder selber gegessen. hase in senfsoße oder hühnersuppe.
zu ostern darf ich mit den küken schmusen, so gelb, so flaumig, so süß. die kleinen weichen körper, die großen augen. einmal habe ich einem bibberle ein bein gebrochen, keine absicht. das war ganz schrecklich. er brachte es weg und sagte »pass in zukunft besser auf«.
draußen ist die alte schwarze katze am fenster vorbei.
Das Neue kommt zuverlässig, immer und immer wieder. Bis das Ende erreicht ist.
Ob man will oder nicht. Manchmal hat man darauf gewartet, wollte, dass das alte Jahr endlich rum ist, weil es schlecht war, von Krisen oder von Krankheit geprägt. Aber immer in dem Bewusstsein, dass es sich um Lebenszeit handelt. Die weniger wird.
Manchmal war das alte Jahr gut, man hätte es gerne für immer behalten. Das neue kommt dann ganz überraschend und ohne, dass man es sich gewünscht hätte.
Jetzt, am Ende des Jahres heißt es, ruhig zu werden und nachzuspüren. Wie war 2022? Ein gutes oder ein schlechtes? Oder irgend etwas dazwischen? Große Bewegungen sind ausgeblieben, kleine Veränderungen gab es. Die Hand tut weh, nun auch das Knie, das Alter gegenwärtig. Der nahe Krieg, die teure Energie, der fortschreitende Klimawandel verweisen auf Niedergang und Zerfall.
2023 kommt nackt. Es hat noch keine Form, keine Bestimmung.
Es will gefüllt werden. Mit neuem Leben, mit neuen Projekten, mit neuen Erfahrungen. Es braucht Mut und Kraft, wieder einmal aufzubrechen und ihm entgegen zu gehen.
Der Weg ist weit, denn die Großeltern wohnen am Ende der ewig langen Straße. Weit, weil sie die lange Strecke zu Fuß gehen muss, wenn sie nach Schulschluss nicht nach Hause, sondern lieber zu den Großeltern will.
Einen großen Garten gibt es da, hinter dem Haus der Großeltern, mitten in der Stadt.
Man sagt ihr „Geh runter spielen“, dann lässt man sie einfach machen. Sie darf Parfum aus Rosenblütenblättern destillieren, sie darf sich Calendulablüten hinter das Ohr stecken. Dann schwimmt sie in einem Meer von Orange. Einem Meer ohne Duft. Sie neckt das Mohrle mit einem Wollknäuel an einer langen Schnur. Das Kätzchen versucht, das Knäuel zu fangen, jagt ihm hinterher, bis es sich verärgert abwendet. Da hilft auch kein „Mohrle komm, komm“ mehr. Manchmal liegt sie mit geschlossenen Augen einfach nur träumend im Gras. Sie träumt von Spielkameradinnen, die nach Rosen duften.
Es ist ein Garten voller Blumen.
Es ist ein Garten voller Obstbäume und Beerensträucher.
Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Träuble, die sie direkt in den Mund stecken darf. Roter Saft, der aus den Mundwinkeln auf die weiße Bluse hinunter tropft. Rote Flecke, die die Mutter nie wieder heraus waschen kann, noch nicht einmal mit Ariel. Sie wird Schimpfe bekommen. Die Stacheln um die dicken Stachelbeeren, die in die Finger pieksen, die machen ihr mehr Lust als Schmerz.
Die Erinnerung an diesen Garten verschmelzt heute mit Texten und Bildern von Heinrich Zille. Da in Berlin füttern einfache Leute ein Schwein auf ihrem Balkon und lassen es dick und fett werden, um dann einen Braten auf dem Tisch zu bekommen und nicht hungern zu müssen.
Die proletarischen Großeltern haben keinen Balkon, sie haben den großen Garten hinter dem Haus. Hier gibt es auch kein Schwein, dafür gibt es Hühner, Hasen und Ziegen, die der Großvater Geißen nennt. Ein Garten voller Tiere, ein Garten voller Obst und Beeren. Die Großmutter kocht alles ein. Dann kommt es auf den Teller und macht satt.
Und glücklich.
Dieser Garten meiner Kindheit ist ein Paradies.
Gehäkelte Erdbeeren von Rasad – Food Objekts, Dokumenta/Kassel Sommer 2022
Da waren die Amis. Ja, man nannte sie „Amis“, die einfachen Soldaten, die GIs, die in den Barracks am Rande der Stadt wohnten. Die mit hoch rasierten Schädeln dienstlich im Kampfanzug und privat in Jeans und Holzfällerhemden in unseren Straßen unterwegs waren oder in den Cafés auf dem mittelalterlichen Marktplatz herumsaßen. Sie sollten wohl für Sicherheit sorgen, für die Sicherheit Deutschlands oder Europas oder der Welt oder vielleicht doch einfach nur für die Sicherheit Amerikas, so genau wusste man das nicht. Sie brachten also Sicherheit, aber auch Schoko-Erdbeer-Vanille-Milcheis in Pappbechern, die so riesig waren, dass ein kleines Kind hinein gepasst hätte, und Whiskey, Kokain und Heroin. Mitten hinein in meine schwäbische Heimatstadt. Wenn ich abends in engen Levisjeans und einem langen Hemd, das ich aus dem Schrank meines Vaters stibitzte, mit meinen Freundinnen ausging, und wenn ich mich auf eine Runde Billard oder mehr, ein bisschen knutschen und herumfingern, einließ, kostete mich der Abend keinen Pfennig. Bei einer meiner Freundinnen ging das schief, sie wurde gleich beim ersten Mal geschwängert und ging noch vor dem Abitur mit ihrem Jonny nach Amerika. Nur einmal habe ich sie wiedergesehen, da hingen vier rotznäsige Bälger an ihrem Rockzipfel. Und nicht zu vergessen: Ein paar Drogentote gab es auch.
Die Amis waren deshalb da, weil oberhalb der Stadt, direkt am Wald, die 56. Brigade mit ihren Pershing II Mittelstreckenraketen stationiert war. Und einmal, es muss im Sommer 1983 gewesen sein, fand da oben ein großes Camp gegen die atomare Aufrüstung statt. Der Dietmar Schönherr kam im Porsche angefahren, er sah wirklich gut aus, sein rotes Cabriolet auch. Als er den Commander McLane in der Raumpatrouille spielte, da hatten meine Eltern noch kein Fernsehgerät. Als er ein bisschen später mit der hübschen Dänin, die so einen lustigen Akzent hatte, die Show „Wünsch Dir was“ machte, da saß auch meine Familie begeistert vor dem neuen Schwarzweißfernseher. Ein bisschen war ich enttäuscht, denn die Vivi Bach saß nicht mit im Porsche. Aber der Heinrich Böll war da. Und der Walter Jens. Und der Günter Grass. Seine »Blechtrommel« hatte ich gerade erst gelesen. Und ganz viele amerikanische Soldaten und ganz viel deutsche Polizei. An der Sitzblockade – die Zufahrt zum US-Camp wurde blockiert – durfte eigentlich nur teilnehmen, wer vorher ein vierwöchiges Antigewalttraining absolviert hatte. Weil die Prominenz sich daran nicht gehalten hatte, war man mit deren Anwesenheit eigentlich nicht einverstanden. Gleichzeitig war man aber froh, dass sie da waren, weil sie ganz viele Zeitungs- und Fernsehleute im Schlepptau hatten. Ich selbst war ahnungslos dort hingekommen und fasziniert von all diesen Menschen, die genau wussten, was zu tun war. An der Sitzblockade durfte ich mangels Training und Berühmtheit nicht teilnehmen, ich wurde immer wieder zur Seite geschoben, weggeschubst, gar nicht beachtetet. Obwohl ich doch eine junge Studentin war, die auch etwas beitragen wollte zum Frieden in der Welt. Die Angst vor dem atomaren Krieg, die Angst vor diesem Präsidenten namens Ronald Reagan, der auch ein Schauspieler war, aber einer ohne Skrupel und mit großer Macht, hatte mich dort hingetrieben. Und die Angst vor den Russen mit ihren SS 20. Den „Russ“ mochte man fast noch weniger als den „Ami“. Denn der Großvater war erst spät und mit einem Loch im Kopf aus der Gefangenschaft zurückgekommen.
Kurz bevor es dunkel wurde, ging ich gemeinsam mit Ulrike, meiner alten Schulfreundin, die ich im Blockadedurcheinander immer wieder verloren und dann wiedergefunden hatte, bergab, noch einmal die 10 Kilometer zu Fuß, weil die Zufahrtsstraßen gesperrt waren. Und weil ich noch nicht nach Hause wollte, ging ich mit zu Ulrike. Beide waren wir schwer beeindruckt von dem, was wir gesehen und erlebt hatten. Heute hatten wir dieses Camp erstmals mit eigenen Augen gesehen, wussten jetzt, wie diese Raketen untergebracht waren. Hatten auch erfahren, dass die ständig im Wald hin und her bewegt, auf Lastwagen durch die Gegend gefahren wurden. Gleichzeitig waren wir aufgekratzt und überdreht, alberten herum, schwärmten für Commander McLane. Ulrike holte eine große Flasche aus ihrem Schrank und zwei Zahnputzbecher aus dem Bad. Es war die halbe Gallone Whiskey, die sie von der Familie Fairbanks für Babysitterdienste bekommen hatte. Bislang fehlte ihr die Idee, was sie mit dieser Flasche tun sollte. Dem Vater zu Weihnachten schenken? Das war eine echt riesige Flasche, und der Vater trank eigentlich kaum Alkohol, schon gar keinen Whiskey. Vielleicht mal einen Asbach Uralt, aber auch das nur an besonderen Tagen. Wir lebten in einer Garnisonsstadt und im PX-Store in der Kaserne, wo nur Armeeangehörige einkaufen durften, gab es vielerlei Dinge, die direkt aus den USA importiert wurden, und die wir gar nicht kannten. Nur beim alljährlichen deutsch-amerikanischen Volksfest kam man an diese riesigen Becher American Ice Cream.
Normalerweise hatten Ulrike und ich mit Alkohol oder Drogen nichts am Hut. Heute aber sollte dieses unbekannte Gesöff namens Jim Beam uns auf andere Gedanken bringen. Uns retten, vor den Raketen, vor den Amis, vor den Russen, vor dem Ende der Welt. Wir fingen an zu trinken, zögerlich am Anfang, denn das braune Zeug schmeckte wirklich ekelhaft. Wir schenkten die Zahnputzbecher trotzdem immer wieder nach. Bis Ulrike würgte und sich die Hand vor den Mund hielt. Jetzt musste es schnell gehen, sie schaffte es gerade noch bis zum Waschbecken im Badezimmer, die Toilette war unten und unerreichbar, und übergab sich. Dann kotzte auch ich mir die Seele aus dem Leib. Seite an Seite standen wir über das Waschbecken gebeugt und kotzten und husteten und rangen um Luft. Wir hatten den ganzen Tag nichts Richtiges gegessen und der Alkohol gab uns nun den Rest. Es stank fürchterlich und überall waren Spritzer, im Waschbecken, auf den Fliesen dahinter, auf dem flauschigen weißen Badvorleger. Auf den Knien und mit einem Waschlappen versuchten wir abwechselnd, die Spuren zu entfernen. Wir waren aber viel zu betrunken und zu zittrig, um mit dem Läppchen wirklich etwas auszurichten, die Kleckse wuchsen und wuchsen, welch ein Horror, schlossen sich schließlich zu einem großen braungrauen Fleck zusammen. Wir konnten nur hoffen, dass er gut antrocknen und die Eltern von Ulrike nichts merken würden.
Bis heute kann ich keinen Whiskey trinken. Schon der Geruch haut mich um. Der hat sich eingegraben in mein Gedächtnis, wie auch dieser Sommernachmittag, an dem ich einfach nur an einer Sitzblockade teilnehmen wollte. Und konfrontiert wurde mit dem Kalten Krieg. Mit diesen Pershings. Mittelstreckenraketen, was sollte das eigentlich heißen? Welche Entfernungen waren damit gemeint, auf wen waren die gerichtet? Waren die weniger schlimm als Langstreckenraketen? Die Eltern wollte ich nicht fragen. Die lebten in ihrer kleinen Welt und wollten nicht in die große hinein gezogen werden.
Ich erinnere mich noch gut, dass ich damals, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, nachts oft stundenlang wach lag und mich mit dem Gedanken plagte, dass ich nicht alt werden, dass ich meinen 30. Geburtstag nicht erleben würde. Ich war mir sicher, dass dieser amerikanische Cowboypräsident bald den roten Knopf drücken und einen atomaren Krieg auslösen würde. Und eine russische Atomrakete würde dann alles zerstören. Meinen Heimatort, mein Elternhaus, mich selbst. In Schutt und Asche legen.
Damals ist alles noch einmal gut gegangen. Der Rest des Whiskeys landete im Ausguss, die Flecken wurden mit 90 Grad und Ariel herausgewaschen (Ulrikes Mutter sagte kein Wort), die Pershings waren 1991 weg.
An den ersten Atemzug erinnert sich wahrscheinlich niemand. Daran, wie man da auf der Brust der Mutter liegt, mit verklebten Augen das saure Desinfektionsmittel, altes Blut und Kernseife einatmet, den Geruch des verschwitzten Kittels der Hebamme absorbiert und brüllt wie am Spieß.
Die Hand der Mutter loslassen, ganz ohne Hilfe laufen, an dieses erste Mal erinnert man sich womöglich. Loslassen und dann doch alleine auf die Nase fallen. Auf den frisch geputzten Steinboden, der nach Meister Proper riecht. Oder draußen in den Dreck fallen. Das erste Mal, wenn Erdbollen und Gras die Nasenlöcher verstopfen, dich nicht mehr schnaufen lassen, spitze Steinchen in deinem Knie stecken.
Oder das erste Mal Fahrradfahren ohne Stützräder. Stopp, sie hatte gar kein Fahrrad und damit auch keine Stützräder. Das erste Mal das Fahrrad des kleinen Bruders nehmen dürfen und es sofort können müssen. Schließlich kann es der kleine Bruder auch. Und dann doch scheitern, flirrende Sternchen sehen und den Geschmack der blutigen Lippe kosten.
Das erste Mal mit den Eltern und dem kleinen Bruder nach Österreich fahren. Das Auto vollkotzen und danach für immer zuhause bleiben. Der Vater sieht rot, zum ersten Mal hört sie schlimme Worte aus seinem Mund. Die Eltern nehmen nur noch den kleinen Bruder mit, sie wird bei den Großeltern abgegeben. Bei denen riecht es nicht nach Kotze, es schmeckt nach Pfannkuchen und Dampfnudeln, nach Komödienstadel und blechener Volksmusik aus dem Transistorradio.
Das erste Mal Sex, wenn man es überhaupt Sex nennen kann, dieses unsichere hitzige Tasten nach unbekannten Körperteilen, das Befingern und Befingertwerden, sein ungestümer grober Griff nach den Brüsten, das Suchen nach dem Unterleib, die klebrigen Hände. Der Geruch von Schweiß und Sperma. Der Geruch von Essig und Öl. Gelungen war es nicht, dieses erste Mal, aber das war kein Problem: Es gab ein weiteres erstes Mal und noch eins und noch eins und noch eins. Und es schmeckte immer besser.
Das erste Mal. Immer und immer wieder ein erstes Mal.
die goldenen kugeln am weihnachtsbaum blinken, der elch mit seinem roten schal und einem grinsen im gesicht hüpft vergnügt auf und ab. das erinnert mich gleich an diesen dämlichen elchpullover, den colin firth in einem der bridget jones filme getragen hat. hat da seine mutter für ihn gestrickt. oder war das gar kein elch, sondern ein rentier? mit namen rudolph? auf jeden fall very unsexy, dieser pulli, mit dem findet er bestimmt keine frau.
zuverlässig wie immer, die elektronische weihnachtskarte, zwei, drei Tage vor heiligabend. merry christmas. grüße auch von jim, george und jane. mit xxx hintendran. ganz amerikanisch, soll wohl kisses heißen. hat sie es also doch noch geschafft, hat sie den nachwuchs bekommen, den sie sich immer gewünscht hat? kluge frauen müssen kinder kriegen, war immer ihr credo. kluge kinder für eine zukunft der menschheit.
hat sie dafür nun den passenden mann gefunden? ein ganzes Jahr habe ich nichts von ihr gehört, weiß gar nichts über jim, george und jane. weihnachtsbaum, elch (rentier?), vier unterschriften, xxx, kein text. merry christmas. mehr gibt es anscheinend nicht zu sagen.
wie immer schicke ich weihnachtsgrüße zurück, mit text und ohne hüpfbild, und gratuliere. sind es zwillinge. eine künstliche befruchtung? dann wird es peinlich. eine sms mit bild kommt: den mann gibt es, ja. die kinder nicht, nein. zwei hunde sind es. xxx, kisses von zwei deutschen boxern. schmatz, pfui. george und jane, hoffentlich zwei kluge hunde. doch für welche zukunft? fuss. platz. männchen. aus. schon ihre eltern hatten brutus. dieselbe rasse, bissig, mit schleimiger schnauze. maulkorb. seit der fünften klasse waren wir nebensitzerinnen. bei ihr daheim war ich wegen brutus nie. nach dem studium ist sie nach amerika, ärztin in einer klinik, zu hiv geforscht. ich bin geblieben. kontakt war immer, gegenseitiger besuch auch, die eine oder andere post ging hin und her. und eines tages kam mein brief zurück. mailadresse ungültig. telefon abgeschaltet. bei google keine frau doktor.
Sie sitzt alleine an einem kleinen Tisch in einem großen Saal. Ein Füller, ein Blatt mit Fragen und ein Stapel weißer Bögen liegen vor ihr. In aller Ruhe liest sie die Fragen. Erst wird ihr heiß, dann wird ihr kalt. Mit beiden Händen hält sie sich am Tisch fest. Blut pumpt durch die Schläfen, das Gesicht wird rot, der Gaumen trocken. Sie nimmt den Stift, will schreiben, muss schreiben. Nur dafür ist sie hergekommen.
Gleich wird ihr etwas einfallen. Gleich wird sie auf ihr Wissen stoßen, gleich wird der Geistesblitz da sein. Sie schwitzt nicht, nein, die Hände sind gar nicht feucht, regelrecht kalt ist ihr an diesem Sommertag. Das Gehirn ist ein Klumpen. Falls es in diesem Kopf je einen klugen Gedanken gegeben hat: Er ist weg. Da müssten drei Fragen zu drei Themen stehen, tatsächlich sind es drei Fragen zu zwei Themen. Er hat sich anders entschieden. Das Thema, auf das sie gelernt hat, fehlt. Fehlt.
Schuster, bleib bei deinem Leisten: Warum um Himmels willen hatte sie studieren wollen? Nach der Vorstellung der Eltern wäre sie Ehefrau und Mutter geworden. In den Augen des Professors taugte sie, die Tochter des Schreiners, nicht für die Uni. Taugte nicht.
Dem Professor den Hund vergiften. Dem Professor die Reifen seines Autos aufschlitzen. Ihn auf dem Zebrastreifen vor dem Institut überfahren. Oder ihm – Zack! – den Schwanz abschneiden, diesem elitären, frauenverachtenden Geschichtsverdreher. Diesem vertrockneten Bücherwurm. Diesem verstaubten.
Wenn sie sich nur fortwünschen, wenn sie sich wie die Jeannie wegbeamen könnte, weg von diesem Tisch, weg von diesem bedrohlichen Berg leerer, weißer Blätter. Leer und weiß.
Dann schreibt sie doch. Und steckt den Stift in seine Hülle, nimmt ihre Tasche, steht auf und geht zum Tisch der Prüfungsaufsicht. Sie gibt einen Bogen ab, ein Blatt Papier mit dem Briefkopf des Seminars für Neuere Geschichte. Darunter steht nun ihr Name.
Und darunter steht: Hund vergiften. Reifen aufschlitzen. Umnieten. Zebrastreifen. Schwanz ab. Zack!
Ausschnitt aus „Die ekstatische Jungfrau Anna Katharina Emmerick“ von Gabriel von Max, 1885 (gesehen und fotografiert in der Kunsthalle Mannheim)
Manchmal nachmittags, wenn die Küche blitzblank sauber war, zog die Großmutter die Schürze aus, ein frisches Kleid an und ging mit der Bürste kurz durch die dünnen dauergewellten Haare. Dann stand ein Höhepunkt im ansonsten recht gleichförmigen Leben der Großmutter an. »Darf ich mit«, fragte sie dann die Großmutter, obwohl sie genau wusste, dass die Großmutter sie mitnehmen würde, weil sie sie mitnehmen musste. Wo hätte sie sie auch lassen sollen. Die Großmutter holte das Fahrrad aus der Garage, die eigentlich keine Garage war, denn ein Auto hatten die Großeltern gar nie besessen. An den Lenker hängte sie die große Tasche, so dass das Fahrrad ein bisschen Schlagseite hatte und von der Großmutter im Gleichgewicht gehalten werden musste. Denn wie immer schob die Großmutter ihr Rad, das sie kaum überragte. Sie selbst, die sie gerade sieben geworden war und im Herbst endlich in die Schule kommen würde, stakste mit ihren langen dünnen Beinen nebenher. Eine längere Strecke lag vor ihnen. Erst kam man am Edeka-Barsch, dann an der Mangelstube von Frau Stegmaier vorbei. Immer wieder grüßte die Großmutter Menschen, die »Grüß Gott Frau Knödler« zu ihr sagten, die sie vom Einkaufen beim Barsch, vom gemeinsamen Mangeln der Bettwäsche oder aus dem Geißenzuchtverein kannte. Stehen blieb sie aber gar nie. Der Großvater züchtete längst keine Ziegen mehr, hatte nur noch Hühner und Hasen hinter dem Haus mit den drei Mietpartien, aber die Mitgliedschaft im Verein, der alljährliche Wandkalender mit den prämierten Tieren und die zweitägige Busreise zu Sehenswürdigkeiten und die Geselligkeit waren ihm nach wie vor wichtig. Die Großmutter dagegen legte weder Wert auf den Kalender noch auf diese Ausflüge. Sie blieb lieber daheim. Am Ende der langen Straße mussten sie den Berg hinauf, die Großmutter schob das Fahrrad langsam bergan und schnaufte heftig. Die Mühe sollte belohnt werden: Frau Kratochwill hatte Kaffee gekocht. Frisch gebrühter Kaffee in einer goldgeränderten Kaffeekanne stand auf dem Tisch, dazu passende Tassen mit Goldrand und Rosendekor. Es gab auch Kuchen. Zu Frau Kratochwill ging man aber nicht, um Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Man ging zu ihr, um in den Ottokatalogen und in den Neckermannkatalogen zu blättern, um dies und das zu vergleichen, um sich Rat zu holen, schließlich eine Wahl zu treffen und zu bestellen. Frau Kratochwill betrieb in ihrem Esszimmer eine Bestellagentur. Da man aber nicht mit der Tür ins Haus fallen wollte, saß man erst einmal gemütlich am Tisch und trank Kaffee, Frau Kratochwill rauchte eine Zigarette dazu. Sie selbst wollte gerne dabei bleiben, wenn die erwachsenen Frauen über Farben und Größen fachsimpelten, den Kuchen aber mochte sie nicht und für Kaffee war sie zu klein. »Geh doch ein bisschen spielen«. Man sagte ihr nicht, was sie spielen sollte und auch nicht, womit. Gerne hätte sie einen der Kataloge mit nach draußen genommen, hätte darin geblättert und die eine oder andere Dame in einem schicken Kostüm und mit blonden hochtoupierten Haaren ausgeschnitten und zuhause in ein Heft geklebt. Sie bekam aber nur ein Glas süßen Sprudel in die Hand gedrückt und wurde nach draußen in den Garten geschickt. Da war es langweilig, so alleine, ein bisschen unheimlich war es auch, weil das Haus keine Nachbarn hatte und am Waldrand stand. Sie streifte ziellos umher, sammelte Blätter und Blüten und dachte sich aus, was sie alles bestellen würde, wenn sie größer wäre und Geld hätte. Da waren schöne Puppen mit blauen Augen und langen blonden Haaren in den Katalogen. Zuhause hatte sie Elsa, die sie gerne mochte, aber die leider keine Haare hatte. Und Paula, die schwarzes Haar hatte, das man zusammenbinden konnte, und die die Augen auf- und zu machen konnte, aber leider ein bisschen klein war. Die im Katalog sahen viel größer und echter aus als die dicke Elsa und kleine Paula, die sie von der Großmutter zu Weihnachten vor einem Jahr und zu Weihnachten vor zwei Jahren bekommen hatte. Gerne hätte sie neue Kleider für Elsa und Paula ausgesucht und Frau Kratochwill den Auftrag gegeben, diese für sie zu bestellen. Bis jetzt mussten die beiden die Sachen auftragen, die die Großmutter für sie genäht hatte. Wenigstens roch es da draußen nicht nach Katzen und nicht nach Zigarettenrauch, und sie musste sich nicht einen Platz suchen zwischen den ganzen Hemden, Hosen, Kleidern, Nachthemden, Schuhabstreifern, Küchenmaschinen und den vielen anderen Dingen, die das Esszimmer von Frau Kratochwill füllten. Es gab immer ein großes Durcheinander von Waren, die noch in Papier eingeschlagen oder bereits ausgepackt waren. Das Papier lag achtlos daneben oder zerknüllt auf dem Boden. Bevor man sich zu Kaffee und Kuchen an den Tisch setzen konnte, galt es erst einmal einen Stuhl und manchmal sogar ein Stück des Tisches frei zu räumen. Die Kataloge und die daraus stammenden Dinge lagen wirklich überall herum. Und dann noch Maßbänder, um Körperumfang und Busen der Kundinnen abzumessen und die richtige Größe zu ermitteln. Und Stecknadeln für den Fall, dass etwas geändert werden musste. Frau Kratochwill konnte an ihrer Nähmaschine ganz schnell etwas enger oder kürzer machen, das war eine Art kostenloser Extraservice. Nicht zu vergessen all die Katzen, die auch überall herumlagen, auf den freien Stühlen, dem Sofa, den Bestellungen. Sie wusste gar nicht, warum die Großen sie nicht dabei haben wollten, denn geredet wurde eigentlich nicht viel. Frau Kratochwill fragte die Großmutter ein ums andere Mal »wie geht es Ihnen denn?«. Und wie dem Mann und wie den Kindern? Die Großmutter antwortete dann »gut«, so wie sie immer antwortete. Manchmal, wenn man ihre Anwesenheit vergessen hatte, blieb sie, setzte sich zu den Katzen aufs Sofa und blätterte in den Katalogen mit den schönen Menschen und den schönen Sachen, und sie wusste genau, was sie sich wünschen würde, wenn man sie fragen würde. Aber sie wurde nicht gefragt, denn die Großmutter war in eigener Sache da. Heimlich schaute sie dabei zu, wie die Großmutter und die anderen Frauen sich hinter den Paravent quetschten, der in einer Ecke des Esszimmers stand. Denn da konnte man, wenn man wollte, alles anprobieren und gemeinsam mit Frau Kratochwill begutachten. »Oh, wie schön Sie aussehen«, sagte Frau Kratochwill dann oder »die Farbe steht Ihnen aber besonders gut« oder »das passt ja wie angegossen«. Ob die Großmutter für den Besuch bei Frau Kratochwill ein bisschen zusätzliches Geld von dem Großvater bekam oder ob sie es sich vom Haushaltsgeld abgespart hatte, indem sie ein bisschen weniger Wurst gekauft oder doch immer wieder auf Sonderangebote beim Barsch zurückgegriffen hatte, wusste sie nicht. Dass der Großmutter kein eigenes Geld zur Verfügung stand, weil der Großvater der Verdiener und Bestimmer war, das wusste sie schon. Jedenfalls bestellte die Großmutter sich dann und wann ein Kleid, eine Schürze, ein Nachthemd oder einen BH oder einen Satz weiße Unterhosen. Sie hatte aber auch beobachtet, dass die Großmutter manchmal zu Frau Kratochwill ging, wenn sie gar kein Geld hatte und nicht bestellen wollte, einfach nur, um in den Katalogen zu blättern. Oder um Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Nein, um einmal bedient zu werden. Und um Gesellschaft zu haben. Genau genommen besaß die Großmutter zwei Kleider, die im Schnitt identisch waren. Modell Sieglinde von Otto, Bestellnummer 3.011 aus der Abteilung Damenoberbekleidung, große Größen. Eines war braun mit kleinen hellblauen Blümchen und eines hellblau mit kleinen braunen Blümchen. Ersteres, das braune mit den hellblauen Blümchen, trug sie unter der Woche, aber nur, wenn sie das Haus verlies. Um zum Barsch, zur Mangelstube oder zu Frau Kratochwill zu gehen. Man sagte, es sei pflegeleicht. Das andere, das hellblaue mit den braunen Blümchen, trug sie am Sonntag. Da verließ sie zwar nicht das Haus, aber da kamen andere zu ihr, um sich an ihren Tisch zu setzen und Kaffee zu trinken und den selbst gebackenen Kuchen zu essen. Weil es hellblau war, galt es als freundliches Kleid. Pflegeleicht war es sowieso. Sonntags steckte sie sich eine kleine goldene Brosche an den großen Busen. Beide Kleider, das werktägliche und das sonntägliche, konnte man von Hand waschen, und sie waren blitzschnell wieder trocken. Die Kittelschürzen, die sie werktags anstelle des Kleides trug, wenn sie das Haus nicht verließ, um zum Barsch, zur Mangel oder zu Frau Kratochwill zu gehen, waren braun mit kleinen hellblauen Blümchen oder hellblau mit kleinen braunen Blümchen. Während alle Kleider kurze Ärmel hatten, die Großmutter trug sie auch im Winter mit einer dünnen Strickjacke darüber, waren die Schürzen ärmellos. Die Bewegungsfreiheit musste immer gewährleistet sein. Wenn sie die Kochwäsche im Topf auf dem Gasherd mit einem großen Holzlöffel umdrehte. Wenn sie den Hefeteig für das Blech voll Apfel- oder Zwetschgenkuchen schlug. Wenn sie für ihre Maultaschen Rindfleisch, Spinat und Rauchfleisch durch den Wolf kurbelte. Wenn sie Berge von Kartoffelsalat fabrizierte. Wenn sie die vielen Früchte aus dem Garten hinter dem Haus, für deren Ernte der Großvater zuständig war, verarbeitete. Entweder sie wurden in Weckgläsern mit Zuckerwasser eingemacht oder zu süßer Marmelade verkocht. Wenn sie die Fenster, die immer blitzen mussten, putzte und den Steinboden ihrer kleinen Küche wischte. Kalt wurde es der Großmutter gar nie. Weil die Schürzen in die große Wäsche gehörten und seltener gewaschen wurden, hatte sie vier davon. Ob die Großmutter Blümchen mochte oder ob die Blümchen ihrer Körperfülle und der Größe 52 geschuldet waren, vermochte sie nicht zu sagen. Sie kannte die Großmutter nur so, in Braun und Hellblau. Und nur mit Blümchen. Wenn eines der Kleider ersetzt werden musste, weil es durch war und die finanzielle Situation es erlaubte, besuchte man Frau Kratochwill, bestellte aus dem Katalog, um ein, zwei Wochen später noch einmal hinzugehen. Frau Kratochwill hatte Telefon, die Großeltern aber nicht. Also ging die Großmutter auf gut Glück hin, mit dem Ziel, Kaffee zu trinken, Kuchen zu essen, die bestellte Ware auszupacken und vor Ort anzuprobieren. Vielleicht hoffte sie sogar darauf, dass sie den Weg vergeblich machen würde. Denn wenn das Bestellte noch nicht eingetroffen war, würde sie das Fahrrad einfach ein weiteres Mal den Berg hinaufschieben. Alle Kleider kamen von Otto. Schürzen und Unterwäsche und Nachthemden von Neckermann. Die Unterhosen und Unterhemden passten immer. Gefiel oder passte aber das neue Kleid nicht, was eher unwahrscheinlich war, da es sich ja immer um das Modell Sieglinde von Otto, Bestellnummer 3.011, aus der Katalogabteilung Damenoberbekleidung, große Größen, in Größe 52 handelte, war dies ein großes Glück. Dann schickte Frau Kratochwill das Kleid zurück und orderte ein neues, und man bekam ein weiteres Mal die Gelegenheit, Kaffee plus Kuchen in Anspruch zu nehmen. Passten aber die Sachen, schrieb Frau Kratochwill handschriftlich alle Posten auf einen Zettel, machte einen Strich darunter und rechnete zusammen. Die Großmutter schaute gar nicht hin und zahlte in bar. Damit war der Einkauf beendet. Waren noch andere Frauen da, gab es manchmal ein Gläschen Eierlikör. Dann wurde Auspacken, Anprobieren und Bezahlen zum Fest. Ganz nebenbei wurde auch noch Lesestoff getauscht. Die Großmutter war in unbeobachteten Momenten eine große Leserin. Wann immer es ging, zog sie sich in das sogenannte »dritte Zimmer«, es war das ehemalige Kinderzimmer in der Dreizimmer-Wohnung der Großeltern, zurück. Dieses Zimmer, das jetzt Nähzimmer, Badezimmer und Gästezimmer in einem war. Und Lesezimmer. Da auf dem Gästebett, das zum Sofa zusammengeklappt war, und auf dem gar nie ein Gast übernachtet hatte, machte sie sich es bequem und schmökerte in ihren Romanen. Da gab es Liebes- und Arztromane vom Bastei-, Pabel-, Moewig- oder Kelterverlag, die sie verschlang, obwohl sie sich mit der Liebe nicht auskannte und Ärzte gar nicht mochte. Sobald so ein Heftle ausgelesen war, verschwand es in der großen Tasche und wurde bei nächster Gelegenheit gegen ein neues Schicksal eingetauscht. Der Großvater sah die Besuche bei Frau Kratochwill nicht gerne. Nicht weil er fand, dass die Großmutter zu viel Geld für sich und ihr Aussehen ausgab, sondern, weil er nicht gerne sah, dass sie aus dem Haus ging und sich mit anderen amüsierte. Sie sollte zuhause sein, wann immer er nach Hause kam. In seinen Augen war sie eine Hausfrau und damit für den Haushalt zuständig. Außerdem hieß es allgemein, die Kratochwill sei geschäftstüchtig und würde die Kundschaft bescheißen, auch sähe sie aus wie eine Hexe mit den rotgefärbten Haaren und der spitzen Nase. Außerdem rauche sie und das gehöre sich nicht für eine Frau. Und ein »Flichtling, mit dem Rucksack gekommen«, sei sie auch noch. Und dann seien da noch die Katzen, die auf den neuen Sachen herumlägen, das könne man doch niemanden zumuten. Noch nicht einmal der Kuchen sei selbst gebacken, die könne ja gar nicht backen, diese Hexe, dieses Flüchtlingsweib. Und dieser ewige Zitronenkuchen mit Zuckerglasur stamme doch vom Barsch, sei bestimmt ein Sonderangebot oder ein Ladenhüter. Trocken und alt. Die Großmutter störte dies alles nicht. Ihr war es wichtig, dass man freundlich zu ihr war, dass sich jemand um sie kümmerte. Dass man sie als Kundin ernst nahm. Sie genoss es, so etwas wie eine Freundin zu haben, auch wenn die beiden immer »Sie« zueinander sagten, »Frau Kratochwill« und »Frau Knödler«, und es nie eine Begegnung außerhalb der Bestellagentur gab. Auch mit den anderen Frauen nicht. Sie konnte sich immer darauf verlassen, dass der Besuch bei Frau Kratochwill sich nicht zu lange hinziehen würde, denn das Abendessen für den Großvater musste pünktlich um fünf auf dem Tisch stehen. Auf dem Rückweg ging es zwar bergab, aber der Fußmarsch musste trotzdem gut kalkuliert sein. Die Tasche am Lenker war nicht leichter geworden – und die Großmutter auch nicht. Jetzt, fünfzig Jahre später, gab Otto bekannt, dass der Katalog Frühjahr/Sommer 2019 der allerletzte sein wird. Neckermann hatte diesen Schritt bereits 2012 getan. Den Otto-Katalog, die Konsumbibel, in der man stundenlang blättern konnte, den Inbegriff aller materieller Sehnsüchte, gab es 68 Jahre lang. Er hat die Großmutter, Frau Kratochwill und die anderen Frauen nach dem Krieg in die Moderne begleitet. Er hat sie überlebt. Der von Otto erfundene Rechnungskauf hatte die Bestellagentur überhaupt erst möglich gemacht. Vorbei. Für immer vorbei. Bestellungen bei Otto in Zukunft nur noch online. Jeder ist heute seine eigene Bestellagentur: Anklicken, in den Warenkorb schieben, mit Kreditkarte bezahlen, das Paket vom DHL-Man an der Haustüre in Empfang nehmen. Für Neukunden gibt es den »Neukunden-Code«, 15 Euro Rabatt und eine »gratis Liefer-Flat«. Da steht man dann alleine vor dem Spiegel, kein Mensch sagt einem, dass das Kleid gut sitzt oder dass man es schnell noch ein bisschen abändern kann. Niemand steht mit Maßband und Stecknadeln bereit. Niemand kocht Kaffee. Niemand serviert Zitronenkuchen. Kein Austausch von Schicksalsromanen, in denen Schwester Angela im letzten Augenblick ihr Glück findet. Die Entscheidung fällt einsam, man behält das Kleid oder schickt es zurück. Dann bringt der DHL-Mann die Retoure wieder zurück nach Hamburg. Man hätte aber genau so gut bei Amazon oder Zalando oder anderswo bestellen können. Genau so anonym, genau so beliebig. Sie stellte sich vor, wie die Großmutter und ihre Frau Kratochwill sich im Grab umdrehten.
Wien, 2019Stuttgarter Zeitung vom 23.04.2021Stuttgarter Zeitung vom 04.11.2021