Das Neue kommt zuverlässig, immer und immer wieder. Bis das Ende erreicht ist.
Ob man will oder nicht. Manchmal hat man darauf gewartet, wollte, dass das alte Jahr endlich rum ist, weil es schlecht war, von Krisen oder von Krankheit geprägt. Aber immer in dem Bewusstsein, dass es sich um Lebenszeit handelt. Die weniger wird.
Manchmal war das alte Jahr gut, man hätte es gerne für immer behalten. Das neue kommt dann ganz überraschend und ohne, dass man es sich gewünscht hätte.
Jetzt, am Ende des Jahres heißt es, ruhig zu werden und nachzuspüren. Wie war 2022? Ein gutes oder ein schlechtes? Oder irgend etwas dazwischen? Große Bewegungen sind ausgeblieben, kleine Veränderungen gab es. Die Hand tut weh, nun auch das Knie, das Alter gegenwärtig. Der nahe Krieg, die teure Energie, der fortschreitende Klimawandel verweisen auf Niedergang und Zerfall.
2023 kommt nackt. Es hat noch keine Form, keine Bestimmung.
Es will gefüllt werden. Mit neuem Leben, mit neuen Projekten, mit neuen Erfahrungen. Es braucht Mut und Kraft, wieder einmal aufzubrechen und ihm entgegen zu gehen.
Wien. Sie fahren nach Wien. Wann und wie oft ist sie schon in der österreichischen Hauptstadt gewesen? Sie sucht nach Erinnerungen. Bruchstückhaft kommen die zurück. Es muss drei Male gewesen sein. Ja, drei Mal in ihrem Leben war sie bislang da.
Als Kind.
Sie muss sechs, sieben Jahre alt gewesen sein, war noch kein Schulkind. Ihre Eltern, die nie mit ihr in den Urlaub fuhren, weil sie hierfür weder Geld noch Zeit hatten, und weil sie nicht wussten, wie man sich erholt, und weil sie sich für Fremdes erst gar nicht interessierten. Wenn sie doch einmal weggefahren sind – sie meinte, sich zu erinnern, dass sie einmal nach Kärnten gefahren sind -, nahmen sie nur den kleinen Bruder mit. Angeblich, weil sie ihnen immer das Auto vollkotzte. Und ein schickes, sauberes Auto war mit das Wichtigste für den Vater. Selbst wenn die Familie gerade wenig Geld hatte, ein neues Auto stand fast immer vor dem Haus. Irgendwann ist die Mutter auf die Idee gekommen, den kleinen Bruder und sie für wenig Geld alleine in die Ferien zu schicken. Über dieses Projekt hatte sie wahrscheinlich nicht allzu viel nachgedacht, sonst hätte sie die beiden Kinder vielleicht gemeinsam verschickt. Denn so hieß das damals: Verschickung. Es hat sich wohl niemand viele Gedanken gemacht, oder aber man dachte, der Kleine kann nicht so weit reisen, die Große schon. Für den kleinen Bruder wurde bei der Arbeiterwohlfahrt ein Ferienlager in Böblingen gebucht, für sie selbst ein Ferienlager bei Wien. Was sie mit der AWO zu tun hatten, die ja eigentlich eine Organisation für ärmere Arbeiterkinder war, weiß sie bis heute nicht. An den Aufenthalt kann sie sich für ihre Verhältnisse (sie kann sich an vieles aus ihrer Kindheit nicht mehr erinnern) ziemlich gut erinnern. Sie hatte sehr großes Heimweh und konnte das Essen nicht vertragen. Warum sie so großes Heimweh hatte, weiß sie nicht. Zuhause war es nicht schön. Es war auch niemand da, der sich gekümmert hätte, gerade in den Ferien mussten sie sich selber beschäftigen. Da gab es kein Ferienprogramm. Die Eltern mussten arbeiten, der kleine Bruder und sie wurden aufgefordert, mitzuhelfen oder in den Hof hinauszugehen. Auch zuhause war das Essen, das die Mutter kochte, eher bescheiden. Und doch war das Essen im Ferienlager viel schrecklicher, sie konnte es nicht vertragen: Alles war fettig, zu fettig. Sie wurde von den Aufsichtspersonen zum Essen gezwungen und konnte nichts bei sich behalten. Sie kann sich bis heute an den Geruch des Kaiserschmarrens erinnern, der vor Fett triefte und mit Roten Beten serviert wurde. Wenn sie sich übergeben musste, wurde sie zur Strafe aufs Zimmer geschickt. Viele Stunden hat sie da mit großem Heimweh und vielen Tränen im Bett verbracht. Auf einen Brief von daheim hat sie gewartet, auf eine Postkarte, einen Anruf. Zuhause war so eine Klingel außen ans Haus montiert, die laut klingelte, wenn das Telefon drinnen läutete. Dort im Heim gab es auf dem Hof genau so eine Klingel mit demselben Klingelton. Jedes Mal, wenn sie diesen hörte, war sie voller Hoffnung, dass es endlich die Mutter sein würde. Die Mutter hat natürlich nicht angerufen, schon gar nicht geschrieben. Und über ihren Zustand wurde keine Meldung gemacht. Ein Mal sind sie zum Stephansdom gefahren. Sie glaubt, die Stufen zur Turmspitze hinauf gestiegen zu sein. Für die Mutter hat sie eine Anstecknadel gekauft, auf der der Dom abgebildet war. Heute hat sie im Internet recherchiert und versucht, dieses Ferienheim wiederzufinden. Es ist ihr nicht gelungen. Unter Arbeiterwohlfahrt und Wien findet sich nichts. Und 1966 oder 1967 ist arg lang her.
Als Tochter.
Mit der Mutter ist sie einmal nach Berlin, einmal nach Rom und einmal nach Wien gefahren. Jeweils mit einer Gruppe von Behinderten. In welchem Jahr sie nach Wien gefahren sind, weiß sie nicht mehr. Es könnte Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger gewesen sein, kurz vor oder kurz nach dem Abitur. Was sie dort gemacht haben, erinnert sie ebenso wenig. In einem großen, teuren Hotel wohnten sie. Es lag an einer vielspurigen Straße, dem Ring. Sie konnte schlecht schlafen, weil sie mit der Mutter ein Doppelbett teilen musste, und weil das Zimmer auf die Straße hinaus ging. Für sie, die sie jung und ein Landei war, war dies alles sehr gewöhnungsbedürftig. Bestimmt haben sie viele Dinge angeschaut: Die Schlösser, den Prunk, den Wurstelprater, das Riesenrad, vielleicht auch noch einmal den Stephansdom. Sie weiß es aber nicht, hat keine Erinnerung, keine Bilder.
Als junge Studentin.
Blumenstr. 73/12 in Hernals. Nach langem Suchen hat sie sie heute wiedergefunden, die Adresse von Eva. In einem alten Kalender von 1986. Anfang der 80er Jahre ist sie mit Studienkolleginnen nach Wien zu einem Kongress gefahren. Sie durfte im VW-Bus mit Tübinger Lesben dorthin fahren, obwohl die sie, die Heterofrau, gar nicht mochten. Denn ja, sie goss ihren Garten nicht mit Menstruationsblut. Denn nein, sie liebte keine Frauen. Und überhaupt: Sie hatte keinen Garten. Mitfahren durfte sie nur, weil sie eine Studienkollegin von Miriam und Evelin war, die quasi für sie bürgten. An den Kongress selbst kann sie sich einfach nicht mehr erinnern. Auch dazu musste sie einen halben Nachmittag im Internet recherchieren, bis sie schließlich den richtigen Hinweis gefunden hat: Es war das 5. Historikerinnentreffen im April 1984 zum Thema „Die ungeschriebene Geschichte“. Übernachtet hat sie bei Eva, die sie von der Tübinger Uni kannte, wo diese ein paar Gastsemester lang studiert hatte. Eva bewohnte eine kleine Wohnung für sich alleine in einem großen Gebäude, typischer Wiener Sozialwohnungsbau, die Toilette draußen auf dem Flur. Ein Badezimmer gab es nicht. Eine andere Welt und so fremd wie das Hotel beim letzten Aufenthalt. Sie weiß noch, dass sie auf dem Sofa geschlafen hat. Eva hat ihr immer gut gefallen: Als eine große Frau mit Haaren, die nach oben wuchsen, hat sie sie in Erinnerung. Später, als sie selbst nicht mehr in Tübingen wohnte, ist sie sie einmal besuchen gekommen. Das muss ein, zwei Jahre später gewesen sein. Eva brachte einen Mann mit, einen Architekten, dessen allergrößte Freude es war, tote Tiere zu fotografieren. Am liebsten mochte er tote Vögel. Überfahrene Vögel. Sie mochte diesen Mann nicht und hat ihre Abneiung, das Nichtmögen auch gezeigt. Das war wohl taktisch nicht so geschickt, denn danach hat sie nichts mehr von Eva gehört. Noch ein einziges Mal, Jahre später, telefonierten sie miteinander, als Eva ihr Adressbuch auf den neusten Stand brachte. Da erzählte ihr Eva, dass sie jetzt beim Magazin Wiener arbeiten würde. Sie sicherten sich gegenseitig zu, dass sie Kontakt halten wollten. Es ist nichts daraus entstanden: Sie hatten sich verloren. Heute hat sie auch Eva im Internet wiedergefunden. Weil sie zu Fuß auf einem Pilgerweg, dem historischen Frankenweg, nach Rom gegangen ist und ihre Erfahrungen aufgeschrieben und zu einem Buch gemacht hat. Laut Klappentext lebt und arbeitet sie in Rom. Und sie ist jetzt Eva A. Auf dem Klappenfoto hat sie Eva zuerst nicht erkannt, dann aber meinte sie doch, Züge ihres Gesichtes wiederzuerkennen. Sie sah jetzt anders, älter aus. Sie trug eine schrecklich bunte Bluse, die sie damals niemals getragen hätte. Ja, Eva sah nicht mehr so aus wie damals. Sie hatte wenig Ähnlichkeit mit der großen, stolzen und stylishen Eva von damals. Kein Wunder, schließlich waren fast dreißig Jahre vergangen. Wer weiß, was sie alles erlebt hatte. Aber warum um Himmels willen war sie nach Rom gelaufen? Und warum trug sie diese Bluse? Schön wäre, ihr in Wien zu begegnen und ihr diese und andere Fragen zu stellen.
Gegen fünf dämmerte das Morgenlicht. Sie lag unter diesem steifen Betttuch, das nach Kernseife roch. Und obwohl es noch nicht einmal ganz hell war, lief Schweiß über ihre Stirn. Sie tropfte aus dem Nacken. Und schwitzte zwischen den Brüsten und den nackten Beinen. Ganz erschlagen war sie von der Nacht auf der harten Matratze aus Stroh. Sie lauschte nach draußen, versuchte, den Lärm zu ergründen. Sie wollte nicht glauben, dass es nur das Meer war, das sie da hörte. Diese riesigen Wellen des Atlantischen Ozeans, die gegen Felsen schlugen. Es gab nicht den Autolärm wie zuhause, wo sie zwar in einer ruhigen Straße wohnte, aber den Verkehr von der etwas entfernten größeren Ausfallstraße immer im Ohr hatte. Außer sie machte alle Fenster zu. Außer sie versuchte, sich einzubilden, es sei das Meer, was da rauschte, nicht Autos, die Tag und Nacht die Straße hinauf und hinunter fuhren. Und jetzt war es das Meer. So dicht, so laut, dass sie es als bedrohlich empfand. Diese Wellen, die an Felsen schlugen. Wie ein Händeklatschen, ein Platsch, wenn sie sich wieder zurückzogen. Immer die kleinen Steinchen im Schlepptau, die das schlurfende Geräusch machten. Jederzeit hätte sich ein Mensch oder ein Tier heranschleichen können, ohne dass sie es gehört hätte. Gar nichts hätte sie gehört. Keinen Ton, keine Schritte. Nur dieses Schlagen, dieses Platschen, dieses Klatschen. Und die Steinchen. Dieses Schlurfen. In der Nacht, die ihre erste Nacht war, als sie wegen der feuchten Hitze und der ungewohnten Umgebung in dieser Hütte, wo es ein Bett, ein Regal und einen Stuhl gab und sonst nichts, nicht hatte einschlafen können, waren Ängste ganz klammheimlich in ihren Kopf und durch ihren Körper gekrochen: Wer oder was schlich gerade um ihre Hütte herum? Wer wollte etwas von ihr, wer trachtete ihr womöglich nach dem Leben? Ihr war klar geworden, dass sie nicht nur allein in ihrer Hütte, sondern allein auf dem großen Gelände war. Auch sie hätte niemand hören können, niemand wäre ihr zu Hilfe kommen.
Die Hitze des Tages kam jetzt unter der Tür hindurch in die Hütte gekrochen, dann unter ihr Betttuch. Sie horchte tief. Tief ein, tief aus. Aber da war nur der Lärm des Ozeans. Angst machte ihr, dass sie die Geräusche hinter den Geräuschen nicht hörte. So laut und doch kein Laut. Immer nur dieses Meer.
Dann kam ein neuer, noch größerer Lärm. Sie vermochte nicht zu sagen, woher er kam, aber sie hörte ihn ganz deutlich, den undefinierbaren Lärm hinter den Wellen. Es kam ihr so vor, als würde jemand mit etwas Metallischem auf etwas Metallisches schlagen. War das der Weckruf? Sollten alle aufwachen, die Nacht beenden und mit dem Tagwerk beginnen? Oder war es die Aufforderung, zum Morgengottesdienst in eine der vielen Kirchen zu kommen? Sie hatte gelesen, dass die und die dazugehörigen Gläubigen von den Missionaren an der Küste zurückgelassen worden waren.
Durch die Fensteröffnung, bei der man die Holzlamellen auf- und zuschieben konnte, passten im geschlossenen Zustand nur Moskitos. Und Käfer und Spinnen. Und die Geckos, die dann Kopf unter an den Deckenbalken hingen, völlig reglos, mit ihren pulsierenden kleinen Lungen. Die glotzten ohne Scham auf alles unter sich, auch auf ihren nackten Körper, der da noch im Bett lag.
Gleich in dieser ersten Nacht war Schreckliches passiert. Auf dem Weg zur Toilette, die etwas entfernt auf dem großen Gelände lag, war sie auf etwas getreten. Auf etwas Riesiges, etwas Klitschiges. Sie wusste gleich, dass es ein Tier war. Der reinste Horror, in dieser Dunkelheit mit dem Schlappen auf etwas zu treten, das groß und glitschig war und sich unter ihrem Fuß bewegte. Sie erschrak zu Tode und dachte sofort an eine giftige Schlange. Denn dass es hier gefährliche Tiere und schlimme Krankheiten gab, daran zweifelte sie nicht. Als sie mit der kleinen Kerosinlampe hinleuchtete, sah sie, dass es eine schwarze Kröte war, fett und furchterregend. Auf dem hastigen Rückweg zur Hütte erschrak sie ein weiteres Mal, das Herz setzte kurz aus, als plötzlich zwei weiße Augen und der Atem von Bier und Zigaretten vor ihr standen. Der Nightwatch, der so schwarz war, wie die Nacht selbst, machte seinen Rundgang über das Gelände. Auf seine Frage „How is life?“ konnte sie nicht antworten, sie war mit ihren Nerven am Ende.
Kein weiteres Mal würde sie nachts die Hütte verlassen, das hatte sie sich geschworen. Zum Glück steckte ein Schlüssel innen in der Tür. Sie drehte ihn gleich dreimal um.
Das Moskitonetz hatte ihr in der Nacht Schutz geboten. Am Morgen, beim ersten Gang zur Toilette, als es draußen schon hell war, aber in den Toilettenkabinen noch dämmerig, wurde sie gestochen. Die Moskitos griffen hinterrücks an und stachen dahin, wo man nicht damit rechnete oder vergessen hatte, sich mit Autan einzuschmieren: in den Hintern. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Malariaprophylaxe Schlimmeres verhinderte. Sie hatte ja gelesen, dass die Malaria nicht anders war als eine Grippe. Dass Malariatabletten gar nichts brachten, weil 85 Prozent der Malariaparasiten zwischenzeitlich immun waren, hatte sie ebenfalls gelesen. Aber sie wollte hier nicht krank werden, weder mit einer Grippe noch mit einer anderen Tropenkrankheit im Bett liegen, wenn man diese harte Matratze und das Kernseifenbetttuch so nennen wollte.
Beim Frühstück unter einem Palmdach, wo es englisches Porridge mit einem Schuss Kondensmilch und schwarzen Tee gab, erzählte sie von der schlaflosen Nacht. Sie versuchte, so unauffällig wie möglich dreinzuschauen und ihr Leid so unaufdringlich wie möglich zu klagen. »Sag es ganz nebenbei und selbstverständlich« mahnte sie sich. Wie irgendeine Deutsche, die ganz zufällig mit lauter Afrikanern an einem Frühstückstisch am Atlantischen Ozean sitzt, ekligen Haferbrei isst und zu erklären versucht, warum sie künftig nicht mehr zur Toilette gehen will. Zu ihrer Überraschung fand sich sofort eine Lösung: Eco, der Mann, der für die Sauberkeit auf dem Gelände zuständig war, wurde angewiesen, ihr einen Nachttopf zu bringen. Er war es auch, der ihr am Abend zuvor eine Kerosinlampe vor die Hütte gestellt hatte. Um über das Gelände zu gehen, brauchte sie künftig keine Funzel mehr, aber um in der Dunkelheit den Nachttopf zu finden. Denn diese Dunkelheit, die war dunkel, die war rabenschwarz. Und laut.
Nach den Schrecken der Nacht verließ sie am ersten Tag das Gelände nicht. Sie erkundete die nähere Umgebung der Hütte. Unter herrlichen Palmen waren Steingärten angelegt. Die Luft roch nach Salz und immer wieder ergaben sich zwischen den wiegenden Palmwedeln Blicke auf das blauste Blau des Wassers. Dann saß sie auf ihrer kleinen Terrasse: So nah war sie dem Ozean noch nie gewesen.
Am Nachmittag ging sie hinunter zum Strand, wo junge Männer aus dem Ort ein Bad nahmen. Ihnen war gesagt worden, dass sie in den kommenden vier Wochen, während der Dauer der Anwesenheit des Gastes, bitte eine Badehose tragen und nicht auf den Strand machen sollten. Früher war dies die Waschstelle des Dorfes gewesen, jetzt war es ein kleines Stück Privatstrand, das zum Resort gehörte. Sie war froh, dass die jungen Männer Hosen anhatten. Ein Sonnenbad nehmen oder schwimmen wollte sie hier aber garantiert nicht. Früher war es üblich gewesen, ein Loch zu graben, hinein zu machen und das Loch wieder zuzumachen. Das hatte mit Glauben zu tun und der Furcht, dass jemand die Exkremente nehmen könnte, um »schlechte« Medizin daraus zu fabriziere. Heute glaubte man an den christlichen Gott und schiss nicht mehr in, sondern auf die Erde, das war bequemer und man musste ja keine Angst mehr haben vor bösen Geistern. Und doch sollte es noch Geister und Hexen geben. Man sagte ihnen nach, Zauberei zu beherrschen und anderen Böses zu tun. Wenn jemand in der Familie oder in der Nachbarschaft schlimm erkrankte, suchte und fand man schnell eine Schuldige. Ihr machte man den Prozess, und sie musste ihre Familie verlassen. Im Reiseführer stand, dass es im Norden des Landes es ein richtiges Hexendorf gab, wo Missionare sich um die Fortgejagten kümmerten. Dahin ins Buschland, wo es keine Straßen, keinen Strom und nur wenig Wasser gab, brachte man sie.
Man erzählte sich, dass auch die weiße Hautfarbe auf eine Hexerei zurückging: Die eine Nebenbuhlerin streute der anderen Pfeffer auf das am See abgelegte Hautkostüm, so dass diese es nicht mehr anziehen konnte und fortan mit der Unterhaut leben musste.
Da am Strand traf sie auch den Snakeman. »Akwaaba«, »welcome«, sagte er, obwohl das gar nicht zur Situation passte. In der Hand hielt er eine weiße Plastiktüte, in der es zappelte. Er war der Mann, der Schlangen mit den blanken Händen fing, um ihnen das Gift abzuzapfen. Auch erzählte er ihr mit wenigen Worten, gut Englisch konnte er nicht, dass er das Serum an Krankenhäuser verkaufe. Eine große Narbe verlief quer über seine rechte Wange. Sie wagte nicht, danach zu fragen, er und seine Tüte waren ihr unheimlich genug. Da half auch das Trikot von Borussia Dortmund nicht. Das Fußballtrikot trug der Snakeman mit Würde, obwohl die Farben ausgebleicht, das Gelb nur noch hellgelb und das Schwarz nur noch grau war. Von der Sonne und bestimmt auch vom vielen Waschen von Hand und mit Kernseife. Die kleine braune Hündin, die dafür zuständig war, durch die Büsche zu streifen und die Schlangen aufzustöbern, ging nicht von seiner Seite. Sie stand da mit traurigen Augen und eingezogenem Schwanz und wich zurück, als sie sie streicheln wollte. Womöglich waren diese beiden Garanten dafür, dass der eine oder andere Weiße nicht gleich ins Gras beißen musste.
Kinder aus dem Dorf schlichen sich von hinten an, und sie hörte, wie sie sich gegenseitig aufforderten, sie anzufassen. Sie dachte, dass sie ihre weiße Haut spüren wollten, die Haut einer »Obroni«, die hier als unvollkommen – wie ein Unterkleid eben – und schwabbelig und gleichzeitig als etwas Besonderes galt. Doch als die »Obroni« »Obroni« Rufe immer näher kamen, kapierte sie, dass die Kinder gekommen waren, um bei ihr um Wasser zu betteln, denn sie hielten rostige Dosen und Plastikbecher in den Händen. »Water«, immer wieder »water« sagten sie. Im Resort gab es aufbereitetes Wasser, sie durfte trinken, so viel sie wollte und unter der Dusche stehen, so lange sie wollte. Im Dorf aber, das an einer schmutzigen Lagune lag, gab es nur wenig sauberes Wasser und viele Kinder starben früh. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, war Eco da, der Mann für Sauberkeit, der Mann für’s Grobe, und verjagte die kleinen Bettler.
Würde ich über meine Wienreise schreiben wollen, würde ich am Anfang und mit der Hinreise anfangen. Nichts Besonderes. Der Zug hat Verspätung und obwohl man für die Plätze bezahlt hat, fährt man rückwärts. Wie macht die Deutsche Bundesbahn das nur? Hohe Preise für Fahrten über den deutschen Feiertag plus Reservierungsgebühr und dann Rückwärtsfahren, die ganze Strecke. Und der Zug ist voll. Am Ende tut einem der Steiß weh von der ganzen Sitzerei auf durchgesessenen Sitzen. Wie gesagt: Nichts Besonderes. Am späten Abend noch schnell ins Gasthaus Mader gegenüber. Ein Rindsgulasch mit einem Riesenmonsterknödel, 10 Euro und eine Halbe Bier zu drei fünfzig. Satt und zufrieden, ganz was Besonderes. Schlecht geschlafen in der ersten Nacht. Könnte am Monsterknödel gelegen haben, der schwer im Magen lag. Oder am Gulasch. Oder an der Matratze, die irgendwie bergab geht. Ständig rutscht man von außen in die Mitte der Matratze, arbeitet sich wieder zurück und rutscht gleich wieder. Die Wohnung eines Fotografen, ein Männerhaushalt, wenig durchdacht, nicht besonders sauber, aber durch und durch stylisch. Spärlich wenige Möbel, natürlich Vintage, zwei große Topfpflanzen, die ihre Daseinsberechtigung suchen. Überall in Wien sieht man sie, hinter den Fenstern von Wohnungen, hinter den Fenstern von Gasthäusern: große Topfpflanzen, gerne Gummibäume, die mit welken Blättern um ihr Überleben kämpfen. Auf den Möbeln des Fotografen ansonsten nichts. Zur Albertina. Dürer und Arnulf Rainer. Kein durchkommen. An der Kasse Hunderte. Die Vorstellung, dass vor dem Hasen genau so viele stehen, lässt verzweifeln und kehrtmachen. Dann Literaturmuseum. Brille vergessen. Nochmals kehrtmachen. Auf der Kärntner Straße keine Ersatzbrillen, dafür Damen mit hohen Absätzen und Louis Vuitton Einkaufstüten. Beim Shopping fotografieren sie sich gegenseitig. Ab ins Netz, damit es auch die anderen erfahren: über die Kärntner gestöckelt und viel Geld ausgegeben. Am Abend ins Schauspielhaus. Das Freiexemplar abholen. Ich bin drin. Drin in diesem Heftchen, das sich Zeitschrift nennt. Schule für Dichtung hört sich großartig an. Ullmaier, einen deutschen Literaturwissenschaftler, hat man sich für den Eröffnungsvortrag geholt. Er spricht über Wut, macht das gut. Die Sargnagel eine coole Sau, liest Kofler, liest ihn aber nicht gut. Will eigentlich gar keine Literatur von Männern lesen, sagt sie. Sie ist Mitglied in der Burschenschaft Hysteria. Und Werner Kofler ist nun mal ein Mann. Berüchtigt für seine Beschimpfungen. Dann die Band Gewalt aus Berlin. Laute Musik, brachial, ein selbstverliebter Musiker mit zwei Frauen, eine Bassistin links, eine Gitarristin rechts. Seine Musikerinnen kommen und gehen, gerade ist es eine Bassistin aus Wien; er bleibt. Umgekehrt wäre es mir lieber. Mir ist es zu laut, ich gehe raus. Die Sargnagel auch. Am zweiten Abend Lydia Haider. Eine Frau, die schreiben kann. Eine Frau, die lesen kann. Die liest, was sie selbst geschrieben hat. Freche, geradezu unverschämte Worte. Eine Schimpftirade, immer schneller, immer lauter. Gerade so möchte ich schreiben können. Gerade so möchte ich mich trauen. Laut sein. Mutig sein. Die Arschlöcher beim Namen nennen. Großartig.
Oskar Wiener liest, seinen Stock neben sich
Der Höhepunkt des Abends aber ist Oswald Wiener. Ein sehr alter sehr grantiger Mann. Er liest aus seinem Buch »Die Verbesserung von Mitteleuropa« von 1969. Und er weiß selbst nicht, warum er es tut. So sagt er. Liegt dieses Leben und dieses Buch doch arg lange zurück. Er beschreibt da ein Theaterstück, benennt die Mitwirkenden – immerhin 35 Schauspieler – genau und beschreibt, was diese zu tun haben. Sie sollen schimpfen, beschimpfen, beleidigen, treten und schlagen. Politiker – es sind österreichische, ich kenne sie nicht – und Kulturschaffende (darunter Roy Black, Udo Jürgens, Peter Alexander), die man kennt, aber auch viele österreichische Künstler, die man nicht kennt oder nicht mehr kennt. Auch er nennt die Arschlöcher beim Namen. Nur dieses Mal sind es die »Trotteln« aus einer vergangenen Zeit. Wiener kommt, er geht an einem Stock und setzt sich an den kleinen Tisch, auf den er am Ende völlig unerwartet mit seinem Stock draufhaut. Liest und geht. Für Gespräche hat er nichts übrig, nichts mehr übrig. Zeitverschwendung, seine Zeit ist endlich, das sieht man. Selbst dem Chef der Schule für Dichtung, Fritz Ostermayer heißt der und ist auch nicht der Jüngste, den müsste er eigentlich kennen, Wiener Crème de la Crème, gibt er weder vorher noch nachher die Chance, eine Frage zu stellen. Von den Wichtigen ist hier eh immer und immer wieder die Rede: vom schimpfenden Kofler, vom verkommenen Doderer, vom bösen Brinkmann (immerhin ein Deutscher). Den Kofler habe ich 1980 einmal gelesen. Ida H. Ich musste das Buch suchen, aber es ist noch da und steht mit vielen Unterstreichungen hinten in meinem Regal. Die anderen kenne ich nicht. Tot sind sie alle. Würde ich über Wien schreiben wollen, würde ich sagen: Wien ist nicht meine Lieblingsstadt. Obwohl die Straßen Wiens voller Gründerzeithäuser beeindruckend sind. Obwohl man sich auch im Haus des Fotografen bereits beim Eintreten in einer anderen Welt angekommen fühlt. Als würde man ein Schloss betreten. Groß, hoch und licht. Böden aus Stein, geflieste Wände, Jugendstillampen. Eine opulente Pracht in einem ganz normalen Wohnhaus in der ganz normalen Alberichgasse im 15. Bezirk.
Fliesen im EingangsfoyerLampe auf der Etage
Ich würde über die Würstel-, Pizza- und Kebabbuden schreiben, die es an jeder, ja wirklich jeder, Haltestelle gibt. An jeder Haltestelle auch Menschen, die Essensreste aus den Abfalleimern kratzen. Pizzaränder, Dönerreste, wohl bekomm’s. An der Tramhaltestelle Ring, Volkstheater ein Mann, der tagsüber in seinem Rollstuhl sitzt und raucht, eine Zigarette nach der anderen. Ein großer schwarzer Koffer steht neben ihm. Er scheint zu warten. Denselben Mann sieht man nachts auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Asphalt liegen, seinen Rollstuhl und den großen schwarzen Koffer ordentlich neben sich aufgereiht. Wie er dort hinüber kommt? Ob er wirklich schläft oder auf das Ende der Nacht wartet? Um wieder herüber zu kommen? Würde ich über meine Wienreise schreiben wollen, müsste ich auch über den Himmel schreiben. Der war grau. Und über den Wind von Ost, der war heftig. Und über die Armen mit zwei Hosen übereinander, aber ohne Strümpfe und mit zu großen Schuhen. Und über die Durchgeknallten, denen man wünschen würde, dass sie ein warmes Zimmer im Otto-Wagner-Spital beziehen. Und über die Drogensüchtigen, die auf der Straße herumliegen. Und über all die Konsumsüchtigen, die die Einkaufsstraßen rauf- und runterpilgern, rauf und runter. Der 3. Oktober ist Womansday, 20 Prozent auf alles.
Otto-Wagner-Spital (Klinik am Steinhof)
Und über den Besuch auf dem Gelände des Otto-Wagner-Spitals. Mit dem Bus 48a fährt man da hin, eine Stunde fast dauert es. Ein riesengroßes parkähnliches Areal mit einer unwirklichen Aneinanderreihung von Jugendstil-Gebäuden. Es gibt Wintergärten und Balkone mit schmiedeisernen Balustraden, die an das Lungensanatorium in Thomas Mann’s Zauberberg erinnern. Ganz oben auf dem Berg die Kirche zum Heiligen Leopold. Sie blinkt und blitzt mit einer riesigen Kuppel aus Gold. Riesige Engel mit goldenen Flügeln bewachen den Eingang. Soll das bedeutendste sakrale Bauwerk des Jugendstils sein. Und das Hauptwerk des Wiener Architekten Wagner. Von den Chinesen, die schnell die Kirche rundum abfotografieren und ein paar Sonntagsflaneuren abgesehen, weit und breit kein Mensch. Vielleicht bleiben die Durchgeknallten doch lieber in der Innenstadt, wollen keine Patienten dieser psychiatrischen Klinik weit draußen sein. Würde ich über meine Wienreise schreiben wollen, würde ich auch über das Ende derselben schreiben. Über Schweinsbraten mit Riesensemmelknödel und eine Halbe Bier. Und über diese unendliche Rückfahrt mit der Deutschen Bundesbahn, viel Verspätung, verpasste Züge, Türen, die sich nicht öffnen lassen, Durchsagen, die nicht kommen. Und nicht zu vergessen: Rückwärtsfahren inklusive. Ich weiß noch nicht, ob ich über meine Wienreise schreiben will. Der Himmel ist auch in Stuttgart grau.
Assoziationen zur Ausstellung Congo Stars in der Kunsthalle Tübingen (Juni 2019)
Wenn es nur immer so einfach wäre mit den Eingebungen…
Sie waren in dieses Resort gekommen, weil die Besitzerin, eine Frau namens Gitte, in Deutschland dafür geworben hatte. Sie war eine Deutsche. Sie war immer alleine gewesen und hatte auf einer Reise durch Afrika einen Mann getroffen. Es war hier nicht unüblich, einen Mann zu treffen. Da gab es weiße Frauen, denen ein Mann fehlte und schwarze Männer, die ihre Situation dadurch verbesserten, dass sie sich diesen zur Verfügung stellten. Erst einmal blieben sie vor Ort und boten Liebe oder besser: Sex im Austausch gegen Smartphones, teure Markenturnschuhe, schwere goldene Ketten und Uhren, die die weißen Frauen mitbrachten, wann immer sie zu Besuch kamen. Selbst wenn sie bereits Frau und Kinder hatten, waren die Männer im zweiten Schritt nicht abgeneigt, nach Europa zu kommen. Auch der Partner von Gitte war nach Deutschland gekommen, hatte sich aber nicht wohlgefühlt, wollte nicht bleiben. Da hatte Gitte, die ein gutes Leben als Uniprofessorin in Potsdam hatte, ihm das Resort an der Steilküste gekauft. Seine Erstfrau und seine Söhne lebten in der Hauptstadt, er selbst mal da, in der Stadt, mal da, im Gästehaus am Meer. Wenn Gitte zwei-, dreimal im Jahr zu Besuch kam, war er der Mann an ihrer Seite. In seinen Augen war sie, die einige Jahre älter war, ein alte Frau, aber eine, die er schätzte, weil sie ihm Wohlstand brachte. Es gab Dreiecksgeschichten aller Art, man nahm es da nicht so genau. Oder besser: Man wollte ein auskömmlicheres Leben haben und musste schauen, wo man blieb.
Hallo, Gomera. Jetzt bin ich wieder da. Ich weiß, du hältst nichts von Urlaubern, weil hier immer Urlauber sind. Du versteckst dich hinter Vulkanhügeln, Lorbeerbäumen und Palmen, die in den Himmel reichen. Der Himmel taucht dich in blaues Licht. Ein Licht, das meine Augen süchtig macht. Ich weiß, du hast mich noch nicht wirklich gesehen. Vielleicht siehst du mich bald einmal die Runde laufen, von La Calera nach Vueltas, unten hin und oben wieder zurück. Manchmal auch umgekehrt. Vielleicht wunderst du dich über meine suchenden Blicke über das Meer. Sie suchen die Unendlichkeit, die Ferne, den Horizont. Manchmal grau, manchmal blassblau. Und die Wale und Delphine. Kleine Einkäufe. Abendessen im Restaurant. Ein gebratener Fisch oder Carne en Salsa. Brot und Mojo. Du hältst nichts von Gourmetküche. Ein Gruß hier, ein Gruß da, bekannte Gesichter. Bestimmt bist du derer manchmal überdrüssig. Vielleicht hörst du mich die Seiten der mitgebrachten Bücher umblättern. Krimis allesamt. Vielleicht wunderst du dich über meine seltsamen Träume. Ich schreibe sie auf für dich. Geschichten schreibe ich. Ich bin da. Und schön ist’s. Und ich komme wieder. Nächsten Winter.
Die Bahnfahrt war lang, sie hatte die Zeit mit Schreiben überbrückt. In Bad Godesberg hatte der Zug gehalten, obwohl dieser Halt gar nicht vorgesehen war. Irgendein anderer Zug war liegengeblieben und die Passagiere mussten aufgenommen werden. Und jetzt war sie am Ziel. Sie hatte vorab alles genau geplant. Nach der Ankunft wollte sie zuerst ein 7-Tage-Ticket kaufen, dann in den Bus steigen und zu ihrer Unterkunft fahren, etwas einkaufen gehen und im Anschluss zur Abendveranstaltung. Da wo es das Ticket gab, sie entdeckte das Haus der Stadtwerke gegenüber vom Bahnhof sofort, musste man eine Nummer ziehen und es waren gefühlt 100 Leute vor ihr in der Schlange. Zum Glück wurde sie von einer jungen Mitarbeiterin darauf hingewiesen, dass man dieses Ticket auch am Automat ziehen könne. Einen 50 Euro Schein nahm der Automat nicht. Auch nicht die EC-Karte. Nur EC Cash wolle er, meinte der Automat. Sie wusste nicht einmal, was das sein sollte. Also machte sie sich mit ihrem Koffer zu Fuß auf den Weg. Gut die rechte Schulter war zum Kofferziehen nicht geeignet und auch der linke Fuß tat weh, aber so weit konnte es ja nicht sein. In ihrer Vorstellung war Münster mittelgroß. Sie stellte es sich so vor wie Tübingen, und da konnte man gut von einem Ende zum anderen laufen. Einen Stadtplan hatte sie nicht. Sie hatte ursprünglich gehofft, mit dem Busticket auch an einen Stadtplan zu kommen. Ihr Handy konnte keinen Stadtplan. Oder konnte sie das Handy nicht? Also fragte sie. Nicht die Menschen mit einem Button – so hatte sie es im Internet gefunden: man solle einfach die netten Menschen mit einem Button „Ich bin Münsteraner*in. Frag mich gerne“ fragen. Heute hatte niemand einen Button an der Brust, vielleicht waren sie unter den warmen Jacken versteckt. Und außen an die schicke Daunenjacke konnte man ja keinen Button stecken, zumindest nicht unfallfrei. Wen also fragen an einem kühlen Herbsttag? Sie fragte Menschen ohne Button. Sie bekam nette Auskünfte. Sie wurde mal in die eine, mal in die andere Richtung geschickt. Und sie hatte selber keinerlei Vorstellung, wo sie war, wo sie eigentlich hin musste. Überall diese gleichen alten prächtigen Häuser. Ohne Stadtplan kein Überblick. Wo sie doch Stadtpläne liebte und sie auch lesen konnte. Entgegen des alten, immer noch geltenden Vorurteils, dass Frauen keine Stadtpläne lesen könnten. Da endlich der Dom. Ein paar Schritte weiter die Erkenntnis, dass dies doch nicht der Dom gewesen war. Der kam erst jetzt und sah gar nicht aus wie ein Dom. Zumindest nicht so, wie sie sich einen Dom vorstellte. Endlich am Ziel. Nein doch nicht, in dieser Straße gab es keine 15. Diese Straße ohne 15 hätte ihr gut gefallen. Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt an der Hauptstraße, noch einmal fragen. Langsam kam die Dämmerung und langsam kam die Verzweiflung, die Zeit lief ihr davon. Die Erkenntnis, dass sie fast richtig gewesen war und noch einmal in die Straße ohne 15 musste, um da in eine Nebengasse einzubiegen. Jetzt stand sie vor der richtigen 15. Kein schönes Haus. Nicht eines der alten Häuser, an denen sie eben noch vorbeigekommen war. Diese schmalen Häuser mit den alten Türen und den niedrigen Decken, wo der Putz von der Fassade bröckelte. Wo man schon immer einmal hatte wohnen wollen. In ihrem Haus roch es feucht. Nach dem Geländer im Haus zu schließen, war es Architektur aus den 50er Jahren. Feuchtigkeit in den Wänden, womöglich schlechte Abwasserrohre. Eine Ferienwohnung unter dem Dach, die keine Wohnung, nur ein Zimmer war. Ging man zur Tür hinein, stand man vor dem Bett. Auch hier roch es feucht. Und der Kühlschrank, mit dem sie das Zimmer teilte, machte Lärm. Langsam wurde ihr klar, dass sie es nicht schaffen würde. Da war sie extra in den früheren Zug gestiegen, um die Abendveranstaltung mitmachen zu können. Nun aber hatte die Suche nach der Unterkunft so lange gedauert, dass sie vom Fußmarsch völlig erschlagen war. Weil Allerheiligen bevorstand, musste sie noch einen Laden finden und Frühstück und Getränke einkaufen. Wieder standen gefühlt 100 Menschen vor ihr in der Schlange. Diese Mal keine nette Mitarbeiterin, die ihr aus der Klemme half. Sie bekam den Eindruck, dass es sich nicht um einen einzigen Feiertag, sondern um einen Notstand in Münster in Westfalen handelte. Noch immer hatte sie kein 7-Tage-Ticket, sie wußte nicht, wo sich die nächste Haltestelle befand, sie wußte nicht, wie sie dahin kommen konnte. Und sie wußte nicht, wie sie nachts wieder zurückfinden sollte. Sie fühlte sich alleine in dieser fremden Stadt. Feucht und modrig. Keine Buttons an der Brust.