
Die Großmutter

Die Bahnfahrt war lang, sie hatte die Zeit mit Schreiben überbrückt. In Bad Godesberg hatte der Zug gehalten, obwohl dieser Halt gar nicht vorgesehen war. Irgendein anderer Zug war liegengeblieben und die Passagiere mussten aufgenommen werden. Und jetzt war sie am Ziel. Sie hatte vorab alles genau geplant. Nach der Ankunft wollte sie zuerst ein 7-Tage-Ticket kaufen, dann in den Bus steigen und zu ihrer Unterkunft fahren, etwas einkaufen gehen und im Anschluss zur Abendveranstaltung. Da wo es das Ticket gab, sie entdeckte das Haus der Stadtwerke gegenüber vom Bahnhof sofort, musste man eine Nummer ziehen und es waren gefühlt 100 Leute vor ihr in der Schlange. Zum Glück wurde sie von einer jungen Mitarbeiterin darauf hingewiesen, dass man dieses Ticket auch am Automat ziehen könne. Einen 50 Euro Schein nahm der Automat nicht. Auch nicht die EC-Karte. Nur EC Cash wolle er, meinte der Automat. Sie wusste nicht einmal, was das sein sollte. Also machte sie sich mit ihrem Koffer zu Fuß auf den Weg. Gut die rechte Schulter war zum Kofferziehen nicht geeignet und auch der linke Fuß tat weh, aber so weit konnte es ja nicht sein. In ihrer Vorstellung war Münster mittelgroß. Sie stellte es sich so vor wie Tübingen, und da konnte man gut von einem Ende zum anderen laufen. Einen Stadtplan hatte sie nicht. Sie hatte ursprünglich gehofft, mit dem Busticket auch an einen Stadtplan zu kommen. Ihr Handy konnte keinen Stadtplan. Oder konnte sie das Handy nicht? Also fragte sie. Nicht die Menschen mit einem Button – so hatte sie es im Internet gefunden: man solle einfach die netten Menschen mit einem Button „Ich bin Münsteraner*in. Frag mich gerne“ fragen. Heute hatte niemand einen Button an der Brust, vielleicht waren sie unter den warmen Jacken versteckt. Und außen an die schicke Daunenjacke konnte man ja keinen Button stecken, zumindest nicht unfallfrei. Wen also fragen an einem kühlen Herbsttag? Sie fragte Menschen ohne Button. Sie bekam nette Auskünfte. Sie wurde mal in die eine, mal in die andere Richtung geschickt. Und sie hatte selber keinerlei Vorstellung, wo sie war, wo sie eigentlich hin musste. Überall diese gleichen alten prächtigen Häuser. Ohne Stadtplan kein Überblick. Wo sie doch Stadtpläne liebte und sie auch lesen konnte. Entgegen des alten, immer noch geltenden Vorurteils, dass Frauen keine Stadtpläne lesen könnten. Da endlich der Dom. Ein paar Schritte weiter die Erkenntnis, dass dies doch nicht der Dom gewesen war. Der kam erst jetzt und sah gar nicht aus wie ein Dom. Zumindest nicht so, wie sie sich einen Dom vorstellte. Endlich am Ziel. Nein doch nicht, in dieser Straße gab es keine 15. Diese Straße ohne 15 hätte ihr gut gefallen. Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt an der Hauptstraße, noch einmal fragen. Langsam kam die Dämmerung und langsam kam die Verzweiflung, die Zeit lief ihr davon. Die Erkenntnis, dass sie fast richtig gewesen war und noch einmal in die Straße ohne 15 musste, um da in eine Nebengasse einzubiegen. Jetzt stand sie vor der richtigen 15. Kein schönes Haus. Nicht eines der alten Häuser, an denen sie eben noch vorbeigekommen war. Diese schmalen Häuser mit den alten Türen und den niedrigen Decken, wo der Putz von der Fassade bröckelte. Wo man schon immer einmal hatte wohnen wollen. In ihrem Haus roch es feucht. Nach dem Geländer im Haus zu schließen, war es Architektur aus den 50er Jahren. Feuchtigkeit in den Wänden, womöglich schlechte Abwasserrohre. Eine Ferienwohnung unter dem Dach, die keine Wohnung, nur ein Zimmer war. Ging man zur Tür hinein, stand man vor dem Bett. Auch hier roch es feucht. Und der Kühlschrank, mit dem sie das Zimmer teilte, machte Lärm. Langsam wurde ihr klar, dass sie es nicht schaffen würde. Da war sie extra in den früheren Zug gestiegen, um die Abendveranstaltung mitmachen zu können. Nun aber hatte die Suche nach der Unterkunft so lange gedauert, dass sie vom Fußmarsch völlig erschlagen war. Weil Allerheiligen bevorstand, musste sie noch einen Laden finden und Frühstück und Getränke einkaufen. Wieder standen gefühlt 100 Menschen vor ihr in der Schlange. Diese Mal keine nette Mitarbeiterin, die ihr aus der Klemme half. Sie bekam den Eindruck, dass es sich nicht um einen einzigen Feiertag, sondern um einen Notstand in Münster in Westfalen handelte. Noch immer hatte sie kein 7-Tage-Ticket, sie wußte nicht, wo sich die nächste Haltestelle befand, sie wußte nicht, wie sie dahin kommen konnte. Und sie wußte nicht, wie sie nachts wieder zurückfinden sollte. Sie fühlte sich alleine in dieser fremden Stadt. Feucht und modrig. Keine Buttons an der Brust.