Archiv für den Monat November 2018

Die Großmutter

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Die Grossmutter roch immer gut. Ihre teigige helle Haut, die dünnen grauen Haare und die rosige Kopfhaut rochen werktags nach Gemüsesuppe und Bratensauce, an Samstagen nach Hefekuchen. Alles machte sie selbst. In ihrer kleinen Küche, in die eigentlich nur sie alleine hineinpasste. Für weitere Personen war da kein Platz. Der Gasherd, die große Gefriertruhe, der Holztisch mit dem einzelnen Stuhl und die steinerne große Spüle standen so nah beieinander, dass sie selbst mit ihrem dicken Leib kaum dazwischen passte. Unter dem Spülbecken verbarg ein Vorhang all die Schüsseln, Eimer und Töpfe, die sie für ihre Tätigkeiten brauchte. Der Schrank auf dem engen Flur beherbergte das Alltagsgeschirr, die Schrankwand im Wohnzimmer das Geschirr für Sonn- und Feiertage. An Freitagen roch die Großmutter nach Süßspeisen und ausgekochter Wäsche. Die Großmutter wusch bis zuletzt ihre Wäsche in großen Schüsseln, die auf der Spüle in der Küche standen. Wie ein Ringer knetete und schlug sie die Wäschestücke, mit Schweiß auf der Stirn, ärmellos schwitzend in einer Küchenschürze. Die Weißwäsche, das waren Leintücher, Kopfkissen- und Bettüberzüge und die überdimensionierten Damenunterhosen der Großmutter und die Männerunterhosen des Großvaters, kochte sie in großen Aluminiumtöpfen auf dem Gasherd und drehte und wendete sie mit einem Rührlöffel aus Holz. Das dampfte und roch nach Waschpulver. Diese schweren Töpfe musste sie zum Spülbecken hiefen, dann mußten auch diese großen Stücke gespült und ausgerungen werden. 
Ihre Haut war hell. Ihre Haut war hell, weil sie das Haus nur selten verlies. Im großen Garten hinter dem Haus hatte sie nichts verloren, das war das Reich des Großvaters. Ein, zwei Mal in der Woche aber schob die Großmutter ihr Fahrrad zum Barsch. Sie stieg nie auf das Fahrrad, vielleicht, weil ihre Beine zu kurz waren, oder weil sie das Fahrrad immer als Transportmittel für ihre schweren Einkaufstaschen benutzte. Vielleicht hätte sie mit der Last der vollen Taschen das Gleichgewicht nicht halten können. In jeder Woche ein, zwei Mal also ging sie zum Barsch. Salat, Gemüse und Obst kamen aus dem Garten. Die Großmutter musste alles dazu kaufen, was der Garten nicht hergab. Der Barsch war ein Edeka-Laden, zumindest stand außen an der Fassade in großer gelber Leuchtschrift „Edeka Barsch“ geschrieben. Herr Barsch war ein kleiner, dicker Mann im weißen Kittel und mit goldgerandeter Brille, der mit viel zu hoher Stimme sprach. Sie war unangenehm und servil, seine Stimme. Alle sagten, der Barsch, die Betonung lag immer auf dem Sch, sei nicht seriös. Immer gab es den Verdacht, dass der Barsch einem zu viel und das Zuviel zu teuer verkaufte. Stand er hinter der Wursttheke, er war eigentlich immer und überall zugleich in seinem Laden, wurde gar nicht erst gefragt „darf’s ein bisschen mehr sein“, es war einfach immer ein bisschen mehr. Und meist überredete der Barsch die Großmutter noch, die eine oder andere Wurstsorte auszuprobieren, die er neu im Programm hatte, oder von der er wusste, dass sie sie noch nicht kannte. Obwohl die Großmutter ganz genau wusste, dass der Großvater niemals etwas essen würde, was er nicht kannte, nach dem Motto „was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“, machte sie immer wieder den gleichen Fehler, sich auf das Experiment einzulassen. Zuhause schloss sie dann die Küchentür und steckte sich die zuviel gekauften Wurstscheiben heimlich in den Mund. „Ich esse Wurst am Liebsten ohne Brot“, sagte sie immer. Das ware ihre Art, Diät zu halten. Der Großvater dagegen saß am Esszimmertisch und aß mit Hochgenuss eigentlich immer dasselbe: Blut- oder Leberwurst mit Gürkchen oder ausnahmsweise mit Radieschen und ein, zwei Scheiben Brot, „genetztes Brot“ musste es sein.
War beim Barsch irgendetwas im Angebot, so mutmaßte man, dass er etwas abverkaufen müsse, was er davor nicht losbekommen hatte oder ansonsten niemals losbekommen würde. War es ein schlechter Tag, bekam sie ein Softeis. Obwohl der Eisautomat großen Eindruck auf sie machte, schmeckte das Eis mehr nach Wasser als nach Vanille. Der Barsch, der dann nicht mehr hinter der Wursttheke stand, sondern hinter dem Eisautomat, ließ das Eis höchstpersönlich in die Waffel laufen und holte so auch aus dem Softeis das Maximale heraus. Andere Läden in der Nähe gab es nicht, außerdem war die Großmutter genügsam und machte sich über den Barsch und seinen Laden weniger Gedanken als alle anderen. Ihr tat es einfach gut, dass man freundlich zu ihr war. War es ein guter Tag, war die Großmutter nicht auf die Freundlichkeiten vom Barsch hereingefallen und hatte keine Wurst zusätzlich gekauft, oder war etwas im Angebot, das sie eh brauchte, blieb also vom Haushaltsgeld etwas übrig, dann bekam sie ein Mohrle. Ein großes Vanilleeis am Stiel mit einem dünnen Überzug aus dunkler Schokolade. Dieses Eis wurde außer Haus gefertigt und eingetütet und der Barsch hatte keinerlei Einfluß auf Menge, Beschaffenheit und Preis. Einem Mohrle konnte auch die Großmutter nicht widerstehen, und so standen sie dann zu zweit vor dem Laden und schleckten voller Lust, bevor die Großmutter das Rad voller schwerer Taschen wieder nach Hause schob. Und in ihrer Küche verschwand.

Münster in Westfalen

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Die Bahnfahrt war lang, sie hatte die Zeit mit Schreiben überbrückt. In Bad Godesberg hatte der Zug gehalten, obwohl dieser Halt gar nicht vorgesehen war. Irgendein anderer Zug war liegengeblieben und die Passagiere mussten aufgenommen werden. Und jetzt war sie am Ziel. Sie hatte vorab alles genau geplant. Nach der Ankunft wollte sie zuerst ein 7-Tage-Ticket kaufen, dann in den Bus steigen und zu ihrer Unterkunft fahren, etwas einkaufen gehen und im Anschluss zur Abendveranstaltung. Da wo es das Ticket gab, sie entdeckte das Haus der Stadtwerke gegenüber vom Bahnhof sofort, musste man eine Nummer ziehen und es waren gefühlt 100 Leute vor ihr in der Schlange. Zum Glück wurde sie von einer jungen Mitarbeiterin darauf hingewiesen, dass man dieses Ticket auch am Automat ziehen könne. Einen 50 Euro Schein nahm der Automat nicht. Auch nicht die EC-Karte. Nur EC Cash wolle er, meinte der Automat. Sie wusste nicht einmal, was das sein sollte. Also machte sie sich mit ihrem Koffer zu Fuß auf den Weg. Gut die rechte Schulter war zum Kofferziehen nicht geeignet und auch der linke Fuß tat weh, aber so weit konnte es ja nicht sein. In ihrer Vorstellung war Münster mittelgroß. Sie stellte es sich so vor wie Tübingen, und da konnte man gut von einem Ende zum anderen laufen. Einen Stadtplan hatte sie nicht. Sie hatte ursprünglich gehofft, mit dem Busticket auch an einen Stadtplan zu kommen. Ihr Handy konnte keinen Stadtplan. Oder konnte sie das Handy nicht? Also fragte sie. Nicht die Menschen mit einem Button – so hatte sie es im Internet gefunden: man solle einfach die netten Menschen mit einem Button „Ich bin Münsteraner*in. Frag mich gerne“ fragen. Heute hatte niemand einen Button an der Brust, vielleicht waren sie unter den warmen Jacken versteckt. Und außen an die schicke Daunenjacke konnte man ja keinen Button stecken, zumindest nicht unfallfrei. Wen also fragen an einem kühlen Herbsttag? Sie fragte Menschen ohne Button. Sie bekam nette Auskünfte. Sie wurde mal in die eine, mal in die andere Richtung geschickt. Und sie hatte selber keinerlei Vorstellung, wo sie war, wo sie eigentlich hin musste. Überall diese gleichen alten prächtigen Häuser. Ohne Stadtplan kein Überblick. Wo sie doch Stadtpläne liebte und sie auch lesen konnte. Entgegen des alten, immer noch geltenden Vorurteils, dass Frauen keine Stadtpläne lesen könnten. Da endlich der Dom. Ein paar Schritte weiter die Erkenntnis, dass dies doch nicht der Dom gewesen war. Der kam erst jetzt und sah gar nicht aus wie ein Dom. Zumindest nicht so, wie sie sich einen Dom vorstellte. Endlich am Ziel. Nein doch nicht, in dieser Straße gab es keine 15. Diese Straße ohne 15 hätte ihr gut gefallen. Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt an der Hauptstraße, noch einmal fragen. Langsam kam die Dämmerung und langsam kam die Verzweiflung, die Zeit lief ihr davon. Die Erkenntnis, dass sie fast richtig gewesen war und noch einmal in die Straße ohne 15 musste, um da in eine Nebengasse einzubiegen. Jetzt stand sie vor der richtigen 15. Kein schönes Haus. Nicht eines der alten Häuser, an denen sie eben noch vorbeigekommen war. Diese schmalen Häuser mit den alten Türen und den niedrigen Decken, wo der Putz von der Fassade bröckelte. Wo man schon immer einmal hatte wohnen wollen. In ihrem Haus roch es feucht. Nach dem Geländer im Haus zu schließen, war es Architektur aus den 50er Jahren. Feuchtigkeit in den Wänden, womöglich schlechte Abwasserrohre. Eine Ferienwohnung unter dem Dach, die keine Wohnung, nur ein Zimmer war. Ging man zur Tür hinein, stand man vor dem Bett. Auch hier roch es feucht. Und der Kühlschrank, mit dem sie das Zimmer teilte, machte Lärm. Langsam wurde ihr klar, dass sie es nicht schaffen würde. Da war sie extra in den früheren Zug gestiegen, um die Abendveranstaltung mitmachen zu können. Nun aber hatte die Suche nach der Unterkunft so lange gedauert, dass sie vom Fußmarsch völlig erschlagen war. Weil Allerheiligen bevorstand, musste sie noch einen Laden finden und Frühstück und Getränke einkaufen. Wieder standen gefühlt 100 Menschen vor ihr in der Schlange. Diese Mal keine nette Mitarbeiterin, die ihr aus der Klemme half. Sie bekam den Eindruck, dass es sich nicht um einen einzigen Feiertag, sondern um einen Notstand in Münster in Westfalen handelte. Noch immer hatte sie kein 7-Tage-Ticket, sie wußte nicht, wo sich die nächste Haltestelle befand, sie wußte nicht, wie sie dahin kommen konnte. Und sie wußte nicht, wie sie nachts wieder zurückfinden sollte. Sie fühlte sich alleine in dieser fremden Stadt. Feucht und modrig. Keine Buttons an der Brust.