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a gulasch und a seidl bier

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dass ich tatsächlich nach wien gezogen bin, erscheint mir unwirklich im nachhinein. auf dieser wienreise habe ich mich von meinem mann getrennt oder der sich von mir, so genau kann man das nicht mehr sagen. jedenfalls bin ich noch immer da. non, je ne regrette rien. es ist august und sonntagnachmittag, die sonne glüht. es ist heiß im prater. mir ist heiß. ein blechtisch mit zwei stühlen, frei und im schatten. vom kellner werde ich nicht unbedingt freundlich empfangen, aber salz, pfeffer und die maggiflasche stehen in dreifaltigkeit bereit. ich mache mich schmal unter dem sonnenschirm und bekomme schnell ein seidl gösser. rettung.

ein großer tisch im gastgarten ist noch frei. ein einziger. er glüht in der sonne, man könnte spiegeleier und speck darauf braten.

zwei alte setzen sich. noch zwei kommen dazu. man leidet gemeinsam „so eine hitz, so ein durscht“ und kommt auf die gute idee, an vier ecken anzupacken und den tisch in den schatten zu rücken. naheliegend. zwei meter nur, ein guter platz. die kinder kommen dazu. enkel auch. da sitzen sie. sonntagsausflüglerisch erwartungsvoll. aber der kellner lässt sich nicht blicken. kommt und kommt nicht. winken. rufzeichen. endlich kommt einer, ein großer dicker in kurzen lederhosen und durchgeschwitztem hemd. gesichter wieder hoffnungsvoll, münder noch durstiger.

begrüssung: „stellens den tisch dahin zurück, wo er hingehört“. unverständnis: „aber sie wollen doch nicht, dass die kinder in der sonne sitzen“. „stellens den tisch sofort zurück“. protest: „es ist doch nichts im schatten frei“. „sie hören doch, was ich sage: der tisch gehört da und nirgendwo anders hin“. er deutet auf eine stelle in der sonne, dahin, wo der tisch stehen muss.

der kellner dreht sich um, geht weg, die familie rührt sich nicht vom fleck. ist optimistisch, dass der seine meinung ändert, dass die vernunft oder der geschäftssinn die oberhand gewinnt, wenn sie sich nicht rühren. dass der endlich die bestellung aufnimmt und etwas zu trinken bringt. wie erwartet, kommt er zurück. erleichterung macht sich breit. hat jetzt den wirt im schlepptau. auch der groß und dick, der gössermuskel (neu in meinem wortschatz!) füllt auch bei ihm die krachlederne. sein hemd könnte eine wäsche, sein gesicht eine rasur vertragen.

gemeinsam bauen sie sich vor der tischgesellschaft auf. „dann mach ma hoid an bahöl, damit sie es verstehen, damit endlich wieder a ruah is (oder so ähnlich?): bringens den tisch an seinen platz zurück!“ grantelt der, der augenscheinlich mehr zu sagen hat. drohung: „allerhand, wenn wir hier nicht sitzen dürfen, dann gehen wir“. „dann gehns halt.“ das familienoberhaupt steht auf, die anderen tun es ihm nach. grummelnd verlassen sie das lokal. ausflug im oasch.

der kellner und sein chef packen wortlos an und stellen den tisch dahin zurück, wo er hingehört. wo er immer steht. in der prallen sonne. weil ordnung sein muss. ja eh.

das gulasch ist da. „noch ein seidl, bitte!“. „kommt sofort“. lebenselexier.

Alle 4 Fotos Wien 2022

Kotzen für den Frieden

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Da waren die Amis. Ja, man nannte sie „Amis“, die einfachen Soldaten, die GIs, die in den Barracks am Rande der Stadt wohnten. Die mit hoch rasierten Schädeln dienstlich im Kampfanzug und privat in Jeans und Holzfällerhemden in unseren Straßen unterwegs waren oder in den Cafés auf dem mittelalterlichen Marktplatz herumsaßen. Sie sollten wohl für Sicherheit sorgen, für die Sicherheit Deutschlands oder Europas oder der Welt oder vielleicht doch einfach nur für die Sicherheit Amerikas, so genau wusste man das nicht. Sie brachten also Sicherheit, aber auch Schoko-Erdbeer-Vanille-Milcheis in Pappbechern, die so riesig waren, dass ein kleines Kind hinein gepasst hätte, und Whiskey, Kokain und Heroin. Mitten hinein in meine schwäbische Heimatstadt. Wenn ich abends in engen Levisjeans und einem langen Hemd, das ich aus dem Schrank meines Vaters stibitzte, mit meinen Freundinnen ausging, und wenn ich mich auf eine Runde Billard oder mehr, ein bisschen knutschen und herumfingern, einließ, kostete mich der Abend keinen Pfennig. Bei einer meiner Freundinnen ging das schief, sie wurde gleich beim ersten Mal geschwängert und ging noch vor dem Abitur mit ihrem Jonny nach Amerika. Nur einmal habe ich sie wiedergesehen, da hingen vier rotznäsige Bälger an ihrem Rockzipfel. Und nicht zu vergessen: Ein paar Drogentote gab es auch.

Die Amis waren deshalb da, weil oberhalb der Stadt, direkt am Wald, die 56. Brigade mit ihren Pershing II Mittelstreckenraketen stationiert war. Und einmal, es muss im Sommer 1983 gewesen sein, fand da oben ein großes Camp gegen die atomare Aufrüstung statt. Der Dietmar Schönherr kam im Porsche angefahren, er sah wirklich gut aus, sein rotes Cabriolet auch. Als er den Commander McLane in der Raumpatrouille spielte, da hatten meine Eltern noch kein Fernsehgerät. Als er ein bisschen später mit der hübschen Dänin, die so einen lustigen Akzent hatte, die Show „Wünsch Dir was“ machte, da saß auch meine Familie begeistert vor dem neuen Schwarzweißfernseher. Ein bisschen war ich enttäuscht, denn die Vivi Bach saß nicht mit im Porsche. Aber der Heinrich Böll war da. Und der Walter Jens. Und der Günter Grass. Seine »Blechtrommel« hatte ich gerade erst gelesen. Und ganz viele amerikanische Soldaten und ganz viel deutsche Polizei. An der Sitzblockade – die Zufahrt zum US-Camp wurde blockiert – durfte eigentlich nur teilnehmen, wer vorher ein vierwöchiges Antigewalttraining absolviert hatte. Weil die Prominenz sich daran nicht gehalten hatte, war man mit deren Anwesenheit eigentlich nicht einverstanden. Gleichzeitig war man aber froh, dass sie da waren, weil sie ganz viele Zeitungs- und Fernsehleute im Schlepptau hatten. Ich selbst war ahnungslos dort hingekommen und fasziniert von all diesen Menschen, die genau wussten, was zu tun war. An der Sitzblockade durfte ich mangels Training und Berühmtheit nicht teilnehmen, ich wurde immer wieder zur Seite geschoben, weggeschubst, gar nicht beachtetet. Obwohl ich doch eine junge Studentin war, die auch etwas beitragen wollte zum Frieden in der Welt. Die Angst vor dem atomaren Krieg, die Angst vor diesem Präsidenten namens Ronald Reagan, der auch ein Schauspieler war, aber einer ohne Skrupel und mit großer Macht, hatte mich dort hingetrieben. Und die Angst vor den Russen mit ihren SS 20. Den „Russ“ mochte man fast noch weniger als den „Ami“. Denn der Großvater war erst spät und mit einem Loch im Kopf aus der Gefangenschaft zurückgekommen.

Kurz bevor es dunkel wurde, ging ich gemeinsam mit Ulrike, meiner alten Schulfreundin, die ich im Blockadedurcheinander immer wieder verloren und dann wiedergefunden hatte, bergab, noch einmal die 10 Kilometer zu Fuß, weil die Zufahrtsstraßen gesperrt waren. Und weil ich noch nicht nach Hause wollte, ging ich mit zu Ulrike. Beide waren wir schwer beeindruckt von dem, was wir gesehen und erlebt hatten. Heute hatten wir dieses Camp erstmals mit eigenen Augen gesehen, wussten jetzt, wie diese Raketen untergebracht waren. Hatten auch erfahren, dass die ständig im Wald hin und her bewegt, auf Lastwagen durch die Gegend gefahren wurden. Gleichzeitig waren wir aufgekratzt und überdreht, alberten herum, schwärmten für Commander McLane. Ulrike holte eine große Flasche aus ihrem Schrank und zwei Zahnputzbecher aus dem Bad. Es war die halbe Gallone Whiskey, die sie von der Familie Fairbanks für Babysitterdienste bekommen hatte. Bislang fehlte ihr die Idee, was sie mit dieser Flasche tun sollte. Dem Vater zu Weihnachten schenken? Das war eine echt riesige Flasche, und der Vater trank eigentlich kaum Alkohol, schon gar keinen Whiskey. Vielleicht mal einen Asbach Uralt, aber auch das nur an besonderen Tagen. Wir lebten in einer Garnisonsstadt und im PX-Store in der Kaserne, wo nur Armeeangehörige einkaufen durften, gab es vielerlei Dinge, die direkt aus den USA importiert wurden, und die wir gar nicht kannten. Nur beim alljährlichen deutsch-amerikanischen Volksfest kam man an diese riesigen Becher American Ice Cream.

Normalerweise hatten Ulrike und ich mit Alkohol oder Drogen nichts am Hut. Heute aber sollte dieses unbekannte Gesöff namens Jim Beam uns auf andere Gedanken bringen. Uns retten, vor den Raketen, vor den Amis, vor den Russen, vor dem Ende der Welt. Wir fingen an zu trinken, zögerlich am Anfang, denn das braune Zeug schmeckte wirklich ekelhaft. Wir schenkten die Zahnputzbecher trotzdem immer wieder nach. Bis Ulrike würgte und sich die Hand vor den Mund hielt. Jetzt musste es schnell gehen, sie schaffte es gerade noch bis zum Waschbecken im Badezimmer, die Toilette war unten und unerreichbar, und übergab sich. Dann kotzte auch ich mir die Seele aus dem Leib. Seite an Seite standen wir über das Waschbecken gebeugt und kotzten und husteten und rangen um Luft. Wir hatten den ganzen Tag nichts Richtiges gegessen und der Alkohol gab uns nun den Rest. Es stank fürchterlich und überall waren Spritzer, im Waschbecken, auf den Fliesen dahinter, auf dem flauschigen weißen Badvorleger. Auf den Knien und mit einem Waschlappen versuchten wir abwechselnd, die Spuren zu entfernen. Wir waren aber viel zu betrunken und zu zittrig, um mit dem Läppchen wirklich etwas auszurichten, die Kleckse wuchsen und wuchsen, welch ein Horror, schlossen sich schließlich zu einem großen braungrauen Fleck zusammen. Wir konnten nur hoffen, dass er gut antrocknen und die Eltern von Ulrike nichts merken würden.

Bis heute kann ich keinen Whiskey trinken. Schon der Geruch haut mich um. Der hat sich eingegraben in mein Gedächtnis, wie auch dieser Sommernachmittag, an dem ich einfach nur an einer Sitzblockade teilnehmen wollte. Und konfrontiert wurde mit dem Kalten Krieg. Mit diesen Pershings. Mittelstreckenraketen, was sollte das eigentlich heißen? Welche Entfernungen waren damit gemeint, auf wen waren die gerichtet? Waren die weniger schlimm als Langstreckenraketen? Die Eltern wollte ich nicht fragen. Die lebten in ihrer kleinen Welt und wollten nicht in die große hinein gezogen werden.

Ich erinnere mich noch gut, dass ich damals, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, nachts oft stundenlang wach lag und mich mit dem Gedanken plagte, dass ich nicht alt werden, dass ich meinen 30. Geburtstag nicht erleben würde. Ich war mir sicher, dass dieser amerikanische Cowboypräsident bald den roten Knopf drücken und einen atomaren Krieg auslösen würde. Und eine russische Atomrakete würde dann alles zerstören. Meinen Heimatort, mein Elternhaus, mich selbst. In Schutt und Asche legen.

Damals ist alles noch einmal gut gegangen. Der Rest des Whiskeys landete im Ausguss, die Flecken wurden mit 90 Grad und Ariel herausgewaschen (Ulrikes Mutter sagte kein Wort), die Pershings waren 1991 weg.

Da war ich schon 31 Jahre alt.

Stuttgart, 13. März 2022

Das Gartenhaus

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Er hatte ein Loch in der Stirn. Man erzählte sich, dass er zu Fuß den langen Weg von Russland bis nach Hause gelaufen sei. Vielleicht war er auch im Güterwaggon gekommen. Von ihm selbst hat man es nicht erfahren. Nie erzählte er irgendetwas. Nie erfuhr man, ob auf ihn geschossen worden war. Nie, ob er getötet hatte. Geschweige denn, ob er Angst gehabt oder geweint hatte. Und wie war das Loch in seine Stirn gekommen? Ich durfte nicht fragen.

Nur aus den Erzählungen der Mutter wusste ich, dass der Großvater erst lange nach Ende des Krieges nach Hause gekommen war, völlig abgemagert in einem viel zu großen, schwarzen Ledermantel. Und mit dieser vernarbten Delle in der hohen Stirn.

Die beiden Brüder der Mutter kamen noch kurz vor dem Krieg auf die Welt, die Mutter selbst und eine Schwester waren im Heimaturlaub gezeugt und in Abwesenheit des Vaters geboren worden. Nach seiner Rückkehr machte der Großvater weitere Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, so dass es insgesamt sieben waren. Eigentlich acht, aber eines ist bald nach der Geburt gestorben.

Er, der vor dem Krieg an einem Werktisch saß und Goldschmuck anfertigte und reparierte, arbeitete nach dem Krieg mit Hacke und Schaufel. Und auch diese Stelle beim städtischen Straßenbau hatte der Großvater nur bekommen, weil seine Familie kinderreich war.

Der Großvater bewirtschaftete einen Garten, den er von der Stadt gepachtet hatte. Er pflanzte Kartoffeln, Bohnen, Krautköpfe, gelbe Rüben, rote Beete, Kräuter und zu meinem großen Glück Erdbeeren an. Und es gab Apfel-, Zwetschgen- und Birnbäume. Und einen Quittenbaum. Dieser Garten hieß nicht Garten wie die Fläche hinter dem Haus, wo Salat, Beerensträuche und Blumen wuchsen. Er hieß »Gütle« und war ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt und gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Auch die Großmutter hätte dorthin radeln können, hat aber gar nie einen Fuß in diesen Garten gesetzt.

Da im Gütle gab es ein kleines gemauertes Haus. Es war drinnen mit Bildern aus der Praline und der Neuen Revue tapeziert. Frauen mit großen Busen, deren Brustwarzen nach oben zeigten, mit strahlend blauen Augen und langen blonden Haaren. Diese Frauen waren oben herum nackt, unten herum nur mit einem knappen Schlüpfer bekleidet.

Der Großvater hatte sie aus den Heften heraus gerissen, die er sich regelmäßig an der Tankstelle, ein paar Meter die Straße runter, holte. Solche Frauen gab es in meiner Familie nicht. Die Tanten und die Mutter waren braunhaarig und hatten kleine Brüste, die Großmutter war klein und füllig.

Obwohl ich die Lieblingsillustrierten des Großvaters, von denen die aktuellsten immer auf dem Couchtisch im Wohnzimmer auslagen, anschauen durfte, durfte ich das Gartenhaus nie betreten. Niemand außer ihm selbst ging da hinein. Er selbst aber verschwand darin und kam stundenlang nicht mehr heraus. Manchmal stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schaute durch das kleine Fenster hinein. Viel konnte man nicht erkennen, denn die Scheiben waren schmutzig und voller Spinnweben.

Ein Tisch, ein Stuhl, eine leere Bierflasche, viele nackte Frauen.

Und er selbst saß am Tisch und hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt.

Busenheftle: Neue Revue Nr. 4/1970

AHA, AHA, AHA*

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Zwischen den Fingern, um die Daumen herum,

Hände waschen, Hände waschen.

Weg mit dem Virus, weg von mir.

Geh weg. Schleich di. Fick dich.

Viel Schaum und zweimal Happy Birthday.

Hahaha.

Die Seife geht aus.

Aus.

Hahaha.

Wo ist der Hausschlüssel.

Hab ich die Maske.

Ist der Einkaufswagen desinfiziert.

Die anderen.

Halten die Abstand, sind die gesund, machen die gut mit.

Ich lasse sie nicht an mich heran.

Weg von mir.

Hahaha.

Keine Nähe.

Selbstgewählt.

Fremdbestimmt.

Sich zurückziehen, sich abschotten.

Nicht gemeinsam essen, trinken, feiern,

nicht reisen.

Lockdown. Und noch ein Lockdown.

2020 eine Nullnummer. Aus dem Leben streichen.

Alte sterben wie Fliegen.

Junge fühlen sich unsterblich.

Rettung naht, der Impfstoff kommt.

Hahaha.

Alles wird gut.

Hahaha.

Klage nicht!

*Die Corona-Formel im Jahr 2020: AHA = Abstand + Hygiene + Alltagsmaske

Mit Maske im Zug nach München, Sommer 2020

Weißensteiner Straße 184

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Graffito, Bonatzbau Stuttgart, 2020

Wenn ich mit schmeichelnder Stimme »bsss bsss bsss, Mohrle komm, Mohrle komm, bsss, bsss, bsss, Mohrle komm, komm, komm« rief, kamen zwei Katzen angerannt. Beide hießen Mohrle. Schwarze Katzen gab es nie, die brachten Unglück. Warum trotzdem alle Mohrle hießen, erfuhr ich nie. Wenn die Katzen erkannten, dass nur ich, das Kind, mit leeren Händen dastand, kamen sie nicht näher. Ich war enttäuscht, ich hätte sie so gerne gestreichelt.

Was ist die früheste Erinnerung an den Ort meiner Kindheit? Ich meine nicht die Geschichten, die einem so oft erzählt werden, bis sie einem wie die eigene Erinnerung vorkommen. Ich meine das, was ich als Kind erlebt und mit meinen Sinnen wahrgenommen habe und heute noch erinnere.

Eine einfach zu erklärende Heimat habe ich nicht. Nicht mehr. Zumindest stellen sich keine heimatlichen Gefühle ein, wenn ich heute durch die Straßen der Stadt gehe, in der ich geboren wurde. Geblieben sind nur Fetzen der Erinnerung, verwischte Ereignisse, verblasste Gesichter.

Den hohen Zaun gibt es noch. Wie damals bewegt sich auf der einen Seite des Zauns der Verkehr stadtauswärts in die nahe gelegenen Dörfer, stadteinwärts aus den Dörfern zurück ins Zentrum der mittelgroßen Stadt. Auch die Bushaltestelle gegenüber ist noch da. Der Verkehr ist dichter geworden und lauter. Und die Häuserblocks gegenüber, die jetzt noch da stehen, wo sie früher schon standen. Viel früher noch waren dies Holzbaracken. Baracken, in denen im und nach dem Krieg Flüchtlinge unterkamen. Vor denen, die mit dem Rucksack gekommen waren, hat man mich als Kind immer gewarnt. Ich fand an Rucksäcken nichts schlimmes, mit Eva durfte ich trotzdem nicht spielen. Heute sehen die Wohnblocks freundlicher aus, haben angebaute Balkone, und da hängen Kästen mit roten Geranien, blauen Petunien, lustigen Fröschen mit Glupschaugen und Porzellanenten mit Strohhüten.

Auf meiner Seite des Zauns gab es keine Spielkameradinnen, dafür eine große Blumenwiese. Ich liebte den Geruch und die Farben der gelben, blauen, knallorangen und roten Blumen, deren Namen mir niemand sagte. Auch den Löwenzahn, den wir Bettscheißer nannten, mochte ich, obwohl der weiße Milchsaft aus den Stängeln grässliche Spuren auf der Hose hinterließ. Besonders gerne pflückte ich einen bunten Strauß für die Großmutter, die ihn dann ohne große Freude entgegennahm, weil für sie alles, was aus dem Garten kam, irgendwie mit Arbeit verbunden war. Manchmal hat der Großvater den Blumen die Köpfe abgeschnitten, bevor ich sie pflücken konnte. Er brauchte Futter für seine Tiere.

Die Blumenwiese war eine große unbebaute Fläche neben dem Haus. Hinter dem Haus gab es einen großen Hof, eine Garage und ein Gartenhaus. Man nannte es Gartenhaus, weil es im Garten stand, wo der Großvater Kopfsalat, Stachel- und Himbeeren, rote und schwarze Träuble und Blumen anpflanzte. Der alte Mann, der ein Stockwerk tiefer wohnte, hatte in seinem Garten auch Tomaten. Der Großvater hatte kein Glück mit Tomaten. Man nannte das Gartenhaus Gartenhaus, obwohl es gleichzeitig die Funktion eines Stalls hatte, denn außer den beiden Katzen wohnten dort auch ein paar Hühner und ein Hahn, die frei herumlaufen durften und Hasen, die in kleinen selbstgebauten Ställen untergebracht waren. Noch vor meiner Zeit hielt der Großvater Geißen und züchtete große bissige Hunde. Es roch nach Heu und Gras und nassem Fell und den Hinterlassenschaften der Tiere. Und das Gartenhaus war nicht nur Stall, sondern auch Werkstatt, denn der Großvater machte dort kleinere Reparaturen.

Daneben die Garage. Die Garage hieß Garage, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine Werkstatt handelte, in denen der Großvater größere Reparaturen mit größeren Werkzeugen an einer richtigen Werkbank machte. Gar nie stand ein Auto darin, denn die Großeltern konnten sich, glaube ich, kein Auto leisten. Womöglich besaß der Großvater überhaupt keinen Führerschein, die Großmutter hatte ganz bestimmt keinen. Die war schließlich Hausfrau, brauchte gar keinen Führerschein. Die Einkäufe erledigte sie mit dem alten Damenrad beim Sparladen zwei Straßen weiter. Die Werkstatt hieß jedenfalls Garage, weil sie ein Garagentor hatte und theoretisch hätte man ein Auto dort hineinstellen können. Es standen aber immer nur zwei Fahrräder und ein Fahrradanhänger darin.

Es gab klare Regeln.

Nur zwei Katzen durften leben, nur zwei wurden mit Küchenabfällen und mit verdünnter Milch gefüttert. Es waren kleine Rationen, denn sie sollten sich hungrig auf die Jagd nach Mäusen machen. Und nach Ratten, die vom Bach heraufkamen. Und zwei Katzen auch nur deshalb, weil ja immer damit gerechnet werden musste, dass eine auf der großen Straße vor dem Haus überfahren wurde. Wenn eine Katze Junge bekam, ahnte sie wohl, dass diese in Gefahr sein würden und versteckte sie im Gartenhaus ganz oben zwischen den Dachbalken oder ganz hinten im Heu. Ich wünschte mir immer, dass der Großvater die Kätzchen nicht finden würde. Es half nichts, der Großvater kannte alle Verstecke. Die überzähligen Kätzchen nahm der Großvater an den Hinterbeinen und schlug sie gegen das Garagentor oder tunkte sie in einen Eimer mit kaltem Wasser.

Die Hühner, denen er auf dem Hackblock, der vor der Garage stand, mit dem Beil den Kopf abgeschlagen oder die Hasen, denen er das Fell abgezogen hatte, wurden mit dem Kopf nach unten außen an das Garagentor gehängt.

Der Großvater fand nichts dabei, wenn ich zuschaute. Schließlich zog er seine Tiere groß, um sie zu verkaufen. Oder um sie zu essen. Dann schlachtete er sie, und die Großmutter machte einen Sonntagsbraten daraus. Mit viel Soße, Kartoffelsalat und grünem Salat aus dem Garten. Und handgeschabten Spätzle. Der Großvater legte großen Wert darauf, nur Selbstgeerntetes und Selbstgemachtes zu essen.

Zu Ostern durfte man im Hof mit den frisch geschlüpften Küken spielen, die so gelb, so flaumig, so weich waren. Einmal habe ich einem Biberle versehentlich ein Bein abgebrochen. Das war schrecklich. Der Großvater brachte es weg und sagte »pass in Zukunft besser auf«.

Ich liebte es, in Großvaters Garten zu sein. Den modrig-feuchten Geruch des Gartenhauses mochte ich, die unheimlichen, dunklen Ecken mit den großen Spinnweben, wo ich mich gut verstecken konnte, auch wenn es niemand gab, der mich hätte suchen und finden wollen. Ich liebte die dicken fetten Himbeeren und die gelbreifen Stachelbeeren, die ich mir direkt vom Strauch in den Mund stecken durfte. Ich liebte es, Parfum aus Rosenblättern zu kochen und Kränze aus Gänseblümchen zu binden.

Der Großvater war ein kräftiger Mann von knapp ein Meter neunzig, der mit nacktem Oberkörper in der sengenden Sonne den Garten umgrub, die Wiese mähte oder seine Ernte aus dem Gütle auf dem Anhänger hinter seinem Fahrrad herzog. Im Sommer thronte er samstags nur mit einer kurzen Hose bekleidet und braun gebrannt inmitten seiner prächtig blühenden Rosenbüsche auf einer Gartenbank im Garten hinter dem Haus, von den Damen aus der Nachbarschaft umgeben. Sie hingen an seinen Lippen, während die Großmutter Kaffee und selbst gebackenen Apfel-, Zwetschgen- oder Birnenkuchen servierte, den sie über zwei Treppen und den ganzen Hof nach hinten schleppte. Im Winter saß der Großvater samstags in einer dicken Wollweste mittig auf der Wohnzimmercouch, Neue Revue und Praline immer griffbereit vor sich auf dem Couchtisch, das Farbposter mit den Camarguepferden, die spritzend durchs Wasser galoppierten, über sich. Er hatte dieses »Gemälde« auf eine Holzplatte aufgezogen, und weil es ihm ein bisschen verrutscht war, hatte er an der Ecke links unten mit grüner Holzfarbe, die vom Zaunstreichen übrig geblieben war, nachgebessert. Auch in seinem Wohnzimmer hielt er Hof, auch hier scharte er die Nachbarinnen, Frauen, die keinen Mann abbekommen hatten oder deren Männer im Krieg geblieben waren, um sich. Während er auf dem Sofa saß, mittig, damit sich niemand neben ihn setzen konnte, sich dort von der Großmutter Kaffee und Kuchen servieren ließ, sammelten sich die Damen um den Esszimmertisch, der im gleichen Zimmer stand und ließen sich dort bedienen. Die Frauen kamen als Freundinnen der Großmutter, lauschten aber dem Großvater und schienen seine Geschichten aufregend zu finden. Er erzählte vom alljährlichen Ausflug mit dem Geißenzuchtverein, seinen neuen Düngemethoden mit Schafsmist und davon, welche Berge er in diesem Jahr geerntet hatte. Sie bewunderten seine Männlichkeit, seine Größe, sein volles schwarzes Haar, den flachen Bauch. Über ihren eigenen Kummer redeten sie nicht. Auch ging es nie um Politik. Dem leckeren Kuchen waren die Frauen nicht abgeneigt, der Großmutter aber schenkten sie wenig Beachtung. Im Gegenteil: Immer wieder wurde halb im Scherz, halb im Ernst die Frage in den Raum gestellt, warum diese kleine, dicke Frau diesen großen attraktiven Mann abbekommen hatte.

Die Großeltern lebten ihr Leben lang, vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg in dieser Mietwohnung am südlichen Ende der Stadt. Eng war es da. Die kleine Dreizimmerwohnung ohne Badezimmer, in der einmal neun Personen gelebt hatten, die zwei alten Fahrräder und der Keller voller Vorräte waren nichts zum Herzeigen. Ich fand es gar nicht eng da. Der Garten war riesig, die Blumenwiese auch. Den wohligen Geruch meiner Großmutter, die immer nach Kuchen und frischer Wäsche roch und den Duft der Blumen meine ich noch zu riechen. Und den Geschmack der reifen Beeren zu schmecken.

Am Ende ihres Lebens brachte man erst den Großvater, später die Großmutter einfach über die Straße. Denn auf der anderen Seite des Zauns und der großen Straße befanden sich nicht nur die Wohnblocks und das Gütle, sondern auch der Friedhof.

Seit die Großeltern tot sind, gibt es diesen Ort meiner Kindheit nicht mehr. Obwohl das Haus Weißensteiner Straße 184 noch immer da steht, wo es damals stand. Gartenhaus und Garage wurden durch ein weiteres Wohnhaus ersetzt. Unbekannte Menschen leben da. Trotz der hohen Quadratmeterpreise gibt es die unbebaute Fläche neben dem Haus noch, die Blumenwiese aber ist verschwunden. Nur noch Gras steht da. Und das Gütle wurde von dem um ein Vielfaches gewachsenen Friedhof verschluckt.

Bilder verblassen. Nur die ungefähre Erinnerung an eine verschwundene Welt bleibt zurück. Ein paar Spuren, keine Fotos. Fotografiert hat man damals nicht.

An Samstagen bekam ich den Auftrag, mit dem Messer das Unkraut zwischen den Wegplatten herauszukratzen. Oder die Erdbeeren im Gütle mussten geerntet werden. Ungeliebte Einsätze, bei denen man auf dem Boden herumkriechen musste. Und diese Beeren durften nicht in meinem Mund landen, sondern mussten auf den Küchentisch der Großmutter. In der kleinen Küche, in die sie gerade so hineingepasst hat, wusch und putzte sie alles, was aus dem Garten kam, und kochte es ein. Weckgläser wurden gefüllt und hinunter in den Keller getragen. Da gab es Himbeer- und Erdbeermarmelade, Quitten- und Träublesgelee, Zwetschgenkompott, Apfelbrei, Stachelbeeren in Zuckerwasser, eingelegte Bohnen und saure Gurken en masse. Wenn ich das Messer nicht richtig ansetzte, in seinen Augen zu schlampig arbeitete oder heimlich eine Beere in den Mund steckte, bekam ich vom Großvater ein paar hinter die Ohren. Erledigte ich meine Sache gut, bekam ich am Sonntag, wenn nicht die Nachbarinnen, sondern die Familie zu Kaffee und Kuchen da war, fünfzig Pfennig für ein Vanilleeis mit Schokoladenüberzug und wurde zur Esso-Tankstelle ein Stück die Weißensteiner Straße hinunter geschickt. »Ein Mohrle bitte«, sagte ich dann zum Tankwart und legte mein selbst verdientes Fuffzgerle auf den Tresen.

Träuble, Rehnenhof, Sommer 2020

Sonntage

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Wenn die Mutter lange genug gemault hatte, »du hast ja nie Zeit für uns, nie machst du etwas mit deinen Kindern«, wenn sie immer weiter machte und davon sprach, dass »die anderen viel mehr schaffen, obwohl die kein Geschäft haben«, wirkte das zwar nicht sofort, aber die Wiederholung dieser Vorwürfe in verschiedenen Varianten ließ den Vater mürbe werden und ihn einsehen, dass er um des Friedens willen einen Sonntag mit Frau und Kindern verbringen sollte. Und da die Mutter nicht zum Fußball wollte, musste der Vater mit zu den Großeltern. Da wurde dann im Kreis der großen Familie Kaffee getrunken und der selbst gebackene Kuchen der Großmutter gegessen. Gerne wurde dabei über Familienangehörige geredet, die nicht anwesend waren. Während man normalerweise fragte »und wie geht es denn dem Hubert?« und »wie laufen denn die Geschäfte?«, immer in der Hoffnung, dass es dem Hubert und auch den Geschäften nicht so gut ging, fragte in seiner Anwesenheit niemand, wie es ihm ging, und auch nach den Geschäften fragte keiner. Überhaupt wurde weniger gesprochen und weniger gefragt, wenn der Vater anwesend war. Das hing auch damit zusammen, dass er selbst nie ein Wort sagte. Er saß stumm auf dem Sofa, trank seine zwei, drei Tassen schwarzer Kaffee, aß seine zwei, drei Stück Kuchen und war in Gedanken weit weg auf dem Fußballplatz.
Ganz selten gab es die, von den Kindern gefürchteten, ganz besonderen Sonntage, das waren die, an denen sie nicht an das andere Ende der Stadt zu den Großeltern fuhren, sondern einen sogenannten Ausflug machten. Ausflug bedeutete, dass man mit dem Auto über Land fuhr. Am allerliebsten saß der Vater auf seinem Motorrad, am Zweitliebsten saß er am Steuer seines Ford Taunus. Er liebte es, rasant und rücksichtslos zu fahren, Geschwindigkeitsbegrenzungen interessierten ihn nicht. Dass den beiden Kindern auf dem Rücksitz davon speiübel wurde, interessierte ihn genauso wenig. Er sagte, dass er den Ausgleich brauche und die Mutter sagte nichts dazu. Sie, die eigentlich nie den Mund halten konnte, saß an diesen ganz besonderen Sonntagen schweigend auf dem Beifahrersitz und hielt sich verzweifelt am Haltegriff fest. Man fuhr irgendwo hin, egal wohin, Hauptsache es gab einen Landgasthof, wo man günstig essen konnte.
Am Ziel angekommen, machten sie einen kleinen Spaziergang. Genau genommen spazierten sie vom Parkplatz zum Gasthof. Die Mutter nutzte das gemeinsame Essen, um all ihre Vorwürfe noch einmal vorzutragen: Dass der Vater zu viel schlafe und zu wenig arbeite. Dass er sich zu wenig um sein Geschäft kümmere. Der kleine Bruder wollte partout Wiener Schnitzel. Wiener Schnitzel bekam er aber gar nie, weil es den Eltern zu teuer war. Der kleine Bruder wollte dann gar nichts essen, nahm aber ein Eis und spielte für den Rest des Tages die beleidigte Leberwurst. Vom Kampf um das Wiener Schnitzel einmal abgesehen, versuchten der kleine Bruder und sie sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Denn an diesen ganz besonderen Sonntagen kam der ewige Konflikt zwischen den Eltern wieder zutage, der darauf beruhte, dass der Vater geerbt hatte, und dass es ganz allein sein Geschäft war. Die Mutter hatte eingeheiratet und nichts zu sagen. Und je weniger die Mutter zu sagen hatte, umso mehr sagte sie.
Ihr selbst war an solchen Sonntagen schlecht. Schlecht von der Fahrweise des Vaters, schlecht vom Essen – sie nahm immer etwas, das nicht so viel kostete, meistens Maultaschen, die sie nicht wirklich mochte – und schlecht von den Auseinandersetzungen der Eltern.
Gottseidank hatte am darauffolgenden Sonntag alles wieder seine Ordnung: Der Vater und der kleine Bruder waren beim Fußball, sie selbst und die Mutter saßen am Kaffeetisch der Großeltern. Sogar die Geschichten über Familienangehörige, die nicht anwesend waren, mochte sie dann.

Dresden 2017

How is life?

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Am Wasser, Ghana 2010

Gegen fünf dämmerte das Morgenlicht. Sie lag unter diesem steifen Betttuch, das nach Kernseife roch. Und obwohl es noch nicht einmal ganz hell war, lief Schweiß über ihre Stirn. Sie tropfte aus dem Nacken. Und schwitzte zwischen den Brüsten und den nackten Beinen. Ganz erschlagen war sie von der Nacht auf der harten Matratze aus Stroh. Sie lauschte nach draußen, versuchte, den Lärm zu ergründen. Sie wollte nicht glauben, dass es nur das Meer war, das sie da hörte. Diese riesigen Wellen des Atlantischen Ozeans, die gegen Felsen schlugen. Es gab nicht den Autolärm wie zuhause, wo sie zwar in einer ruhigen Straße wohnte, aber den Verkehr von der etwas entfernten größeren Ausfallstraße immer im Ohr hatte. Außer sie machte alle Fenster zu. Außer sie versuchte, sich einzubilden, es sei das Meer, was da rauschte, nicht Autos, die Tag und Nacht die Straße hinauf und hinunter fuhren. Und jetzt war es das Meer. So dicht, so laut, dass sie es als bedrohlich empfand. Diese Wellen, die an Felsen schlugen. Wie ein Händeklatschen, ein Platsch, wenn sie sich wieder zurückzogen. Immer die kleinen Steinchen im Schlepptau, die das schlurfende Geräusch machten. Jederzeit hätte sich ein Mensch oder ein Tier heranschleichen können, ohne dass sie es gehört hätte. Gar nichts hätte sie gehört. Keinen Ton, keine Schritte. Nur dieses Schlagen, dieses Platschen, dieses Klatschen. Und die Steinchen. Dieses Schlurfen. In der Nacht, die ihre erste Nacht war, als sie wegen der feuchten Hitze und der ungewohnten Umgebung in dieser Hütte, wo es ein Bett, ein Regal und einen Stuhl gab und sonst nichts, nicht hatte einschlafen können, waren Ängste ganz klammheimlich in ihren Kopf und durch ihren Körper gekrochen: Wer oder was schlich gerade um ihre Hütte herum? Wer wollte etwas von ihr, wer trachtete ihr womöglich nach dem Leben? Ihr war klar geworden, dass sie nicht nur allein in ihrer Hütte, sondern allein auf dem großen Gelände war. Auch sie hätte niemand hören können, niemand wäre ihr zu Hilfe kommen.

Die Hitze des Tages kam jetzt unter der Tür hindurch in die Hütte gekrochen, dann unter ihr Betttuch. Sie horchte tief. Tief ein, tief aus. Aber da war nur der Lärm des Ozeans. Angst machte ihr, dass sie die Geräusche hinter den Geräuschen nicht hörte. So laut und doch kein Laut. Immer nur dieses Meer.

Dann kam ein neuer, noch größerer Lärm. Sie vermochte nicht zu sagen, woher er kam, aber sie hörte ihn ganz deutlich, den undefinierbaren Lärm hinter den Wellen. Es kam ihr so vor, als würde jemand mit etwas Metallischem auf etwas Metallisches schlagen. War das der Weckruf? Sollten alle aufwachen, die Nacht beenden und mit dem Tagwerk beginnen? Oder war es die Aufforderung, zum Morgengottesdienst in eine der vielen Kirchen zu kommen? Sie hatte gelesen, dass die und die dazugehörigen Gläubigen von den Missionaren an der Küste zurückgelassen worden waren.

Durch die  Fensteröffnung, bei der man die Holzlamellen auf- und zuschieben konnte, passten im geschlossenen Zustand nur Moskitos. Und Käfer und Spinnen. Und die Geckos, die dann Kopf unter an den Deckenbalken hingen, völlig reglos, mit ihren pulsierenden kleinen Lungen. Die glotzten ohne Scham auf alles unter sich, auch auf ihren nackten Körper, der da noch im Bett lag.

Gleich in dieser ersten Nacht war Schreckliches passiert. Auf dem Weg zur Toilette, die etwas entfernt auf dem großen Gelände lag, war sie auf etwas getreten. Auf etwas Riesiges, etwas Klitschiges. Sie wusste gleich, dass es ein Tier war. Der reinste Horror, in dieser Dunkelheit mit dem Schlappen auf etwas zu treten, das groß und glitschig war und sich unter ihrem Fuß bewegte. Sie erschrak zu Tode und dachte sofort an eine giftige Schlange. Denn dass es hier gefährliche Tiere und schlimme Krankheiten gab, daran zweifelte sie nicht. Als sie mit der kleinen Kerosinlampe hinleuchtete, sah sie, dass es eine schwarze Kröte war, fett und furchterregend. Auf dem hastigen Rückweg zur Hütte erschrak sie ein weiteres Mal, das Herz setzte kurz aus, als plötzlich zwei weiße Augen und der Atem von Bier und Zigaretten vor ihr standen. Der Nightwatch, der so schwarz war, wie die Nacht selbst, machte seinen Rundgang über das Gelände. Auf seine Frage „How is life?“ konnte sie nicht antworten, sie war mit ihren Nerven am Ende.

Kein weiteres Mal würde sie nachts die Hütte verlassen, das hatte sie sich geschworen. Zum Glück steckte ein Schlüssel innen in der Tür. Sie drehte ihn gleich dreimal um.

Das Moskitonetz hatte ihr in der Nacht Schutz geboten. Am Morgen, beim ersten Gang zur Toilette, als es draußen schon hell war, aber in den Toilettenkabinen noch dämmerig, wurde sie gestochen. Die Moskitos griffen hinterrücks an und stachen dahin, wo man nicht damit rechnete oder vergessen hatte, sich mit Autan einzuschmieren: in den Hintern. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Malariaprophylaxe Schlimmeres verhinderte. Sie hatte ja gelesen, dass die Malaria nicht anders war als eine Grippe. Dass Malariatabletten gar nichts brachten, weil 85 Prozent der Malariaparasiten zwischenzeitlich immun waren, hatte sie ebenfalls gelesen. Aber sie wollte hier nicht krank werden, weder mit einer Grippe noch mit einer anderen Tropenkrankheit im Bett liegen, wenn man diese harte Matratze und das Kernseifenbetttuch so nennen wollte.

Beim Frühstück unter einem Palmdach, wo es englisches Porridge mit einem Schuss Kondensmilch und schwarzen Tee gab, erzählte sie von der schlaflosen Nacht. Sie versuchte, so unauffällig wie möglich dreinzuschauen und ihr Leid so unaufdringlich wie möglich zu klagen. »Sag es ganz nebenbei und selbstverständlich« mahnte sie sich. Wie irgendeine Deutsche, die ganz zufällig mit lauter Afrikanern an einem Frühstückstisch am Atlantischen Ozean sitzt, ekligen Haferbrei isst und zu erklären versucht, warum sie künftig nicht mehr zur Toilette gehen will. Zu ihrer Überraschung fand sich sofort eine Lösung: Eco, der Mann, der für die Sauberkeit auf dem Gelände zuständig war, wurde angewiesen, ihr einen Nachttopf zu bringen. Er war es auch, der ihr am Abend zuvor eine Kerosinlampe vor die Hütte gestellt hatte. Um über das Gelände zu gehen, brauchte sie künftig keine Funzel mehr, aber um in der Dunkelheit den Nachttopf zu finden. Denn diese Dunkelheit, die war dunkel, die war rabenschwarz. Und laut.

Nach den Schrecken der Nacht verließ sie am ersten Tag das Gelände nicht. Sie erkundete die nähere Umgebung der Hütte. Unter herrlichen Palmen waren Steingärten angelegt. Die Luft roch nach Salz und immer wieder ergaben sich zwischen den wiegenden Palmwedeln Blicke auf das blauste Blau des Wassers. Dann saß sie auf ihrer kleinen Terrasse: So nah war sie dem Ozean noch nie gewesen.

Am Nachmittag ging sie hinunter zum Strand, wo junge Männer aus dem Ort ein Bad nahmen. Ihnen war gesagt worden, dass sie in den kommenden vier Wochen, während der Dauer der Anwesenheit des Gastes, bitte eine Badehose tragen und nicht auf den Strand machen sollten. Früher war dies die Waschstelle des Dorfes gewesen, jetzt war es ein kleines Stück Privatstrand, das zum Resort gehörte. Sie war froh, dass die jungen Männer Hosen anhatten. Ein Sonnenbad nehmen oder schwimmen wollte sie hier aber garantiert nicht. Früher war es üblich gewesen, ein Loch zu graben, hinein zu machen und das Loch wieder zuzumachen. Das hatte mit Glauben zu tun und der Furcht, dass jemand die Exkremente nehmen könnte, um »schlechte« Medizin daraus zu fabriziere. Heute glaubte man an den christlichen Gott und schiss nicht mehr in, sondern auf die Erde, das war bequemer und man musste ja keine Angst mehr haben vor bösen Geistern. Und doch sollte es noch Geister und Hexen geben. Man sagte ihnen nach, Zauberei zu beherrschen und anderen Böses zu tun. Wenn jemand in der Familie oder in der Nachbarschaft schlimm erkrankte, suchte und fand man schnell eine Schuldige. Ihr machte man den Prozess, und sie musste ihre Familie verlassen. Im Reiseführer stand, dass es im Norden des Landes es ein richtiges Hexendorf gab, wo Missionare sich um die Fortgejagten kümmerten. Dahin ins Buschland, wo es keine Straßen, keinen Strom und nur wenig Wasser gab, brachte man sie.

Man erzählte sich, dass auch die weiße Hautfarbe auf eine Hexerei zurückging: Die eine Nebenbuhlerin streute der anderen Pfeffer auf das am See abgelegte Hautkostüm, so dass diese es nicht mehr anziehen konnte und fortan mit der Unterhaut leben musste.

Da am Strand traf sie auch den Snakeman. »Akwaaba«, »welcome«, sagte er, obwohl das gar nicht zur Situation passte. In der Hand hielt er eine weiße Plastiktüte, in der es zappelte. Er war der Mann, der Schlangen mit den blanken Händen fing, um ihnen das Gift abzuzapfen. Auch erzählte er ihr mit wenigen Worten, gut Englisch konnte er nicht, dass er das Serum an Krankenhäuser verkaufe. Eine große Narbe verlief quer über seine rechte Wange. Sie wagte nicht, danach zu fragen, er und seine Tüte waren ihr unheimlich genug. Da half auch das Trikot von Borussia Dortmund nicht. Das Fußballtrikot trug der Snakeman mit Würde, obwohl die Farben ausgebleicht, das Gelb nur noch hellgelb und das Schwarz nur noch grau war. Von der Sonne und bestimmt auch vom vielen Waschen von Hand und mit Kernseife. Die kleine braune Hündin, die dafür zuständig war, durch die Büsche zu streifen und die Schlangen aufzustöbern, ging nicht von seiner Seite. Sie stand da mit traurigen Augen und eingezogenem Schwanz und wich zurück, als sie sie streicheln wollte. Womöglich waren diese beiden Garanten dafür, dass der eine oder andere Weiße nicht gleich ins Gras beißen musste.

Kinder aus dem Dorf schlichen sich von hinten an, und sie hörte, wie sie sich gegenseitig aufforderten, sie anzufassen. Sie dachte, dass sie ihre weiße Haut spüren wollten, die Haut einer »Obroni«, die hier als unvollkommen – wie ein Unterkleid eben – und schwabbelig und gleichzeitig als etwas Besonderes galt. Doch als die »Obroni« »Obroni« Rufe immer näher kamen, kapierte sie, dass die Kinder gekommen waren, um bei ihr um Wasser zu betteln, denn sie hielten rostige Dosen und Plastikbecher in den Händen. »Water«, immer wieder »water« sagten sie. Im Resort gab es aufbereitetes Wasser, sie durfte trinken, so viel sie wollte und unter der Dusche stehen, so lange sie wollte. Im Dorf aber, das an einer schmutzigen Lagune lag, gab es nur wenig sauberes Wasser und viele Kinder starben früh. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, war Eco da, der Mann für Sauberkeit, der Mann für’s Grobe, und verjagte die kleinen Bettler.

Zu kostbar das Wasser für die Kinder am Wasser.

Im Wasser, Ghana 2010

Weh dir

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Man könnte sagen, wir leben in unsicheren Zeiten. Man könnte aber auch sagen, wir leben in sicheren Zeiten, denn wir können uns sicher sein in dieser Unsicherheit. Wir wissen nicht, was morgen kommt. Wir wissen nicht, ob es uns morgen trifft. Aber Krankheit und Tod sind uns immer sicher. Ist Klopapierkaufen eine Übersprungshandlung?  Um davon abzulenken, dass es passieren könnte?