Man hatte wenig fotografiert damals, sie wußte nicht einmal, wer überhaupt eine Kamera besaß. Aber sie meinte zu wissen, dass sie auch deshalb nicht fotografiert wurde, weil man nicht viel Zeit mit ihr verbrachte. Und ein ausgesprochen schönes Kind war sie auch nicht.
Da sie nie einen Kindergarten besucht hatte, gab es von ihr auch nicht die Bilder, auf denen sie mit den anderen halb nackten Kindern fröhlich im Schwimmbassin herumsprang. Solche Fotos gab es von dem kleinen Bruder. Von ihr gab es immerhin ein Schulbild. Eines, das die Eltern gekauft hatten. Ein Schwarz-Weiß-Bild, fotografiert vom Profifotografen, abgezogen auf dickem Papier, 13 mal 18 Zentimeter groß.
Darauf zu sehen war ein kleines Mädchen in einem handgestrickten Rollkragenpullover, glatt rechts. Farbe unbekannt. Sie vermutet, dass er rot war. Denn rot waren damals alle ihre Sachen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie die Mutter jemals mit Strickzeug gesehen hatte. Die hatte nicht stricken können, schon gar nicht so etwas Kompliziertes wie einen Pullover. Wo kam er also her, dieser Pullover, den sie an einem Tag in der ersten Klasse getragen hatte. Es war naheliegend, dass die Großmutter den Pullover gestrickt hatte, denn die beherrschte, wie alle anderen Hausarbeiten, auch das Stricken. Sie war immer Hausfrau gewesen und hatte dies von der Pike auf gelernt.
Später, als sie selbst in der zweiten und dritten Grundschulklasse im Handarbeitsunterricht stricken musste, hatte die Großmutter ihre Handarbeiten oft nachgebessert und manchmal aus Mitleid komplett übernommen. Sie fühlte sich dann so unbegabt wie die Mutter, die all diese Dinge nicht konnte.
Vielleicht hatte die Schule Fotos dieser Art anlässlich des ersten Schultags in Auftrag gegeben. Dann müsste da aber ein Kind mit einer Schultüte im Arm zu sehen sein. Hier aber saß ein Mädchen in einem Rollkragenpullover glatt rechts gestrickt, wahrscheinlich rot, vor einem aufgeschlagenen Buch. Eine Topfpflanze ragte von links ins Bild. Sehr wahrscheinlich war es nicht der erste Schultag.
Hier wurde im Klassenzimmer das Lesen und das allererste Lesebuch inszeniert. Sie selbst saß da in ihrem selbst gestrickten, wahrscheinlich roten Pullover und einer kleinen Uhr am rechten Armgelenk und würdigte das vor ihr liegende Buch keines Blickes.
Stattdessen blickte sie in die Kamera, war ganz konzentriert auf den Akt des Fotografiertwerdens. Sieben Jahre war sie alt, sie war erst mit sieben eingeschult worden. Die Frisur sah so selbst gemacht aus wie der Pullover. Links waren die glatten Haare, die Großmutter nannte sie immer „fatzenglatt“, kürzer und endeten oberhalb des Ohrs, rechts waren sie etwas länger und gingen über das Ohr.
Der Pony war schief, wieder links kürzer als rechts. Wer hatte geschnitten? Die Großmutter jedenfalls, die eigentlich alles konnte, hatte nie Haare geschnitten. Man sah genau, dass einen Augenblick davor noch jemand mit einem Kamm und vielleicht mit Spucke nachgeholfen hatte. Das könnte die Großmutter gewesen sein. Weder hübsch noch glücklich sah das Schulkind aus, aber erwartungsvoll. Das wirklich bemerkenswerte an diesem Foto war, dass Geld dafür ausgegeben worden war, dass man Geld für ein Foto von einem Profi ausgegeben hatte. Für die Eltern waren normalerweise jedes Heft und jeder Stift ein Heft und ein Stift zu viel.
Kleb doch das Foto in dein Fotoalbum, wenn du willst. Es würde diesen guten, detailreichen autobiografischen Beitrag weiter zugänglich machen, vielleicht Querverweise zu weiteren Lebensgeschichten anlegen.
Jetzt bin ich tatsächlich drin und habe ein paar Texte hinterlegt. Der nächste Schritt könnten Fotos sein.