Garten der Kindheit

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Der Weg ist weit, denn die Großeltern wohnen am Ende der ewig langen Straße. Weit, weil sie die lange Strecke zu Fuß gehen muss, wenn sie nach Schulschluss nicht nach Hause, sondern lieber zu den Großeltern will.

Einen großen Garten gibt es da, hinter dem Haus der Großeltern, mitten in der Stadt.

Man sagt ihr „Geh runter spielen“, dann lässt man sie einfach machen. Sie darf Parfum aus Rosenblütenblättern destillieren, sie darf sich Calendulablüten hinter das Ohr stecken. Dann schwimmt sie in einem Meer von Orange. Einem Meer ohne Duft. Sie neckt das Mohrle mit einem Wollknäuel an einer langen Schnur. Das Kätzchen versucht, das Knäuel zu fangen, jagt ihm hinterher, bis es sich verärgert abwendet. Da hilft auch kein „Mohrle komm, komm“ mehr. Manchmal liegt sie mit geschlossenen Augen einfach nur träumend im Gras. Sie träumt von Spielkameradinnen, die nach Rosen duften.

Es ist ein Garten voller Blumen.

Es ist ein Garten voller Obstbäume und Beerensträucher.

Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Träuble, die sie direkt in den Mund stecken darf. Roter Saft, der aus den Mundwinkeln auf die weiße Bluse hinunter tropft. Rote Flecke, die die Mutter nie wieder heraus waschen kann, noch nicht einmal mit Ariel. Sie wird Schimpfe bekommen. Die Stacheln um die dicken Stachelbeeren, die in die Finger pieksen, die machen ihr mehr Lust als Schmerz.

Die Erinnerung an diesen Garten verschmelzt heute mit Texten und Bildern von Heinrich Zille. Da in Berlin füttern einfache Leute ein Schwein auf ihrem Balkon und lassen es dick und fett werden, um dann einen Braten auf dem Tisch zu bekommen und nicht hungern zu müssen.

Die proletarischen Großeltern haben keinen Balkon, sie haben den großen Garten hinter dem Haus. Hier gibt es auch kein Schwein, dafür gibt es Hühner, Hasen und Ziegen, die der Großvater Geißen nennt. Ein Garten voller Tiere, ein Garten voller Obst und Beeren. Die Großmutter kocht alles ein. Dann kommt es auf den Teller und macht satt.

Und glücklich.

Dieser Garten meiner Kindheit ist ein Paradies.

Gehäkelte Erdbeeren von Rasad – Food Objekts, Dokumenta/Kassel Sommer 2022

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