Ein Tag ist ein guter Tag, wenn sie eine Zeile geschrieben hat.
Eine Zeile, eine Zeile.
Innere Grenzen überschreiten.
Die Leere im Kopf zur Seite schieben.
Noch eine Zeile
und noch eine Zeile.
Ein guter Tag.
Kürzestbiographie
Am Anfang kämpfte sie gegen das allumfassende Himmelblau.
Dann gegen Chemie und Physik.
Dann gegen einen Geschichtsprofessor, dem sie nicht passte.
Dann gegen Arbeitgeber, denen sie zu sehr passte.
Dann gegen die Übermacht der Krankheit.
Dann kam einer, mit dem sie gemeinsam kämpfte.
Und feierte.
Das Leben.
Entleeren
Die Worte fließen lassen. Entleeren, aufräumen, auf eine andere Ebene kommen. Den eigenen Kritiker, der tief innen drin sitzt, zum Schweigen bringen. Den eigenen Ansprüchen genügen. Mut fassen. Aus der Haut und wieder hinein fahren. Den richtigen Ton finden. Sich nicht an den anderen messen. Kurven drehen und immer wieder zu sich zurückkehren und bei sich bleiben.
Abschied
Abschied nehmen
und übrig bleiben
der eigenen Person Platz machen
Raum geben
nicht am Alten hängen
nur weil es sich bewährt hat
den Körper und Geist mitnehmen
nicht festkleben
neue Gedanken
gute Gefühle
Vienna calling
Wien. Sie fahren nach Wien. Wann und wie oft ist sie schon in der österreichischen Hauptstadt gewesen? Sie sucht nach Erinnerungen. Bruchstückhaft kommen die zurück. Es muss drei Male gewesen sein. Ja, drei Mal in ihrem Leben war sie bislang da.
Als Kind.
Sie muss sechs, sieben Jahre alt gewesen sein, war noch kein Schulkind. Ihre Eltern, die nie mit ihr in den Urlaub fuhren, weil sie hierfür weder Geld noch Zeit hatten, und weil sie nicht wussten, wie man sich erholt, und weil sie sich für Fremdes erst gar nicht interessierten. Wenn sie doch einmal weggefahren sind – sie meinte, sich zu erinnern, dass sie einmal nach Kärnten gefahren sind -, nahmen sie nur den kleinen Bruder mit. Angeblich, weil sie ihnen immer das Auto vollkotzte. Und ein schickes, sauberes Auto war mit das Wichtigste für den Vater. Selbst wenn die Familie gerade wenig Geld hatte, ein neues Auto stand fast immer vor dem Haus. Irgendwann ist die Mutter auf die Idee gekommen, den kleinen Bruder und sie für wenig Geld alleine in die Ferien zu schicken. Über dieses Projekt hatte sie wahrscheinlich nicht allzu viel nachgedacht, sonst hätte sie die beiden Kinder vielleicht gemeinsam verschickt. Denn so hieß das damals: Verschickung. Es hat sich wohl niemand viele Gedanken gemacht, oder aber man dachte, der Kleine kann nicht so weit reisen, die Große schon. Für den kleinen Bruder wurde bei der Arbeiterwohlfahrt ein Ferienlager in Böblingen gebucht, für sie selbst ein Ferienlager bei Wien. Was sie mit der AWO zu tun hatten, die ja eigentlich eine Organisation für ärmere Arbeiterkinder war, weiß sie bis heute nicht. An den Aufenthalt kann sie sich für ihre Verhältnisse (sie kann sich an vieles aus ihrer Kindheit nicht mehr erinnern) ziemlich gut erinnern. Sie hatte sehr großes Heimweh und konnte das Essen nicht vertragen. Warum sie so großes Heimweh hatte, weiß sie nicht. Zuhause war es nicht schön. Es war auch niemand da, der sich gekümmert hätte, gerade in den Ferien mussten sie sich selber beschäftigen. Da gab es kein Ferienprogramm. Die Eltern mussten arbeiten, der kleine Bruder und sie wurden aufgefordert, mitzuhelfen oder in den Hof hinauszugehen. Auch zuhause war das Essen, das die Mutter kochte, eher bescheiden. Und doch war das Essen im Ferienlager viel schrecklicher, sie konnte es nicht vertragen: Alles war fettig, zu fettig. Sie wurde von den Aufsichtspersonen zum Essen gezwungen und konnte nichts bei sich behalten. Sie kann sich bis heute an den Geruch des Kaiserschmarrens erinnern, der vor Fett triefte und mit Roten Beten serviert wurde. Wenn sie sich übergeben musste, wurde sie zur Strafe aufs Zimmer geschickt. Viele Stunden hat sie da mit großem Heimweh und vielen Tränen im Bett verbracht. Auf einen Brief von daheim hat sie gewartet, auf eine Postkarte, einen Anruf. Zuhause war so eine Klingel außen ans Haus montiert, die laut klingelte, wenn das Telefon drinnen läutete. Dort im Heim gab es auf dem Hof genau so eine Klingel mit demselben Klingelton. Jedes Mal, wenn sie diesen hörte, war sie voller Hoffnung, dass es endlich die Mutter sein würde. Die Mutter hat natürlich nicht angerufen, schon gar nicht geschrieben. Und über ihren Zustand wurde keine Meldung gemacht. Ein Mal sind sie zum Stephansdom gefahren. Sie glaubt, die Stufen zur Turmspitze hinauf gestiegen zu sein. Für die Mutter hat sie eine Anstecknadel gekauft, auf der der Dom abgebildet war. Heute hat sie im Internet recherchiert und versucht, dieses Ferienheim wiederzufinden. Es ist ihr nicht gelungen. Unter Arbeiterwohlfahrt und Wien findet sich nichts. Und 1966 oder 1967 ist arg lang her.
Als Tochter.
Mit der Mutter ist sie einmal nach Berlin, einmal nach Rom und einmal nach Wien gefahren. Jeweils mit einer Gruppe von Behinderten. In welchem Jahr sie nach Wien gefahren sind, weiß sie nicht mehr. Es könnte Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger gewesen sein, kurz vor oder kurz nach dem Abitur. Was sie dort gemacht haben, erinnert sie ebenso wenig. In einem großen, teuren Hotel wohnten sie. Es lag an einer vielspurigen Straße, dem Ring. Sie konnte schlecht schlafen, weil sie mit der Mutter ein Doppelbett teilen musste, und weil das Zimmer auf die Straße hinaus ging. Für sie, die sie jung und ein Landei war, war dies alles sehr gewöhnungsbedürftig. Bestimmt haben sie viele Dinge angeschaut: Die Schlösser, den Prunk, den Wurstelprater, das Riesenrad, vielleicht auch noch einmal den Stephansdom. Sie weiß es aber nicht, hat keine Erinnerung, keine Bilder.
Als junge Studentin.
Blumenstr. 73/12 in Hernals. Nach langem Suchen hat sie sie heute wiedergefunden, die Adresse von Eva. In einem alten Kalender von 1986. Anfang der 80er Jahre ist sie mit Studienkolleginnen nach Wien zu einem Kongress gefahren. Sie durfte im VW-Bus mit Tübinger Lesben dorthin fahren, obwohl die sie, die Heterofrau, gar nicht mochten. Denn ja, sie goss ihren Garten nicht mit Menstruationsblut. Denn nein, sie liebte keine Frauen. Und überhaupt: Sie hatte keinen Garten. Mitfahren durfte sie nur, weil sie eine Studienkollegin von Miriam und Evelin war, die quasi für sie bürgten. An den Kongress selbst kann sie sich einfach nicht mehr erinnern. Auch dazu musste sie einen halben Nachmittag im Internet recherchieren, bis sie schließlich den richtigen Hinweis gefunden hat: Es war das 5. Historikerinnentreffen im April 1984 zum Thema „Die ungeschriebene Geschichte“. Übernachtet hat sie bei Eva, die sie von der Tübinger Uni kannte, wo diese ein paar Gastsemester lang studiert hatte. Eva bewohnte eine kleine Wohnung für sich alleine in einem großen Gebäude, typischer Wiener Sozialwohnungsbau, die Toilette draußen auf dem Flur. Ein Badezimmer gab es nicht. Eine andere Welt und so fremd wie das Hotel beim letzten Aufenthalt. Sie weiß noch, dass sie auf dem Sofa geschlafen hat. Eva hat ihr immer gut gefallen: Als eine große Frau mit Haaren, die nach oben wuchsen, hat sie sie in Erinnerung. Später, als sie selbst nicht mehr in Tübingen wohnte, ist sie sie einmal besuchen gekommen. Das muss ein, zwei Jahre später gewesen sein. Eva brachte einen Mann mit, einen Architekten, dessen allergrößte Freude es war, tote Tiere zu fotografieren. Am liebsten mochte er tote Vögel. Überfahrene Vögel. Sie mochte diesen Mann nicht und hat ihre Abneiung, das Nichtmögen auch gezeigt. Das war wohl taktisch nicht so geschickt, denn danach hat sie nichts mehr von Eva gehört. Noch ein einziges Mal, Jahre später, telefonierten sie miteinander, als Eva ihr Adressbuch auf den neusten Stand brachte. Da erzählte ihr Eva, dass sie jetzt beim Magazin Wiener arbeiten würde. Sie sicherten sich gegenseitig zu, dass sie Kontakt halten wollten. Es ist nichts daraus entstanden: Sie hatten sich verloren. Heute hat sie auch Eva im Internet wiedergefunden. Weil sie zu Fuß auf einem Pilgerweg, dem historischen Frankenweg, nach Rom gegangen ist und ihre Erfahrungen aufgeschrieben und zu einem Buch gemacht hat. Laut Klappentext lebt und arbeitet sie in Rom. Und sie ist jetzt Eva A. Auf dem Klappenfoto hat sie Eva zuerst nicht erkannt, dann aber meinte sie doch, Züge ihres Gesichtes wiederzuerkennen. Sie sah jetzt anders, älter aus. Sie trug eine schrecklich bunte Bluse, die sie damals niemals getragen hätte. Ja, Eva sah nicht mehr so aus wie damals. Sie hatte wenig Ähnlichkeit mit der großen, stolzen und stylishen Eva von damals. Kein Wunder, schließlich waren fast dreißig Jahre vergangen. Wer weiß, was sie alles erlebt hatte. Aber warum um Himmels willen war sie nach Rom gelaufen? Und warum trug sie diese Bluse? Schön wäre, ihr in Wien zu begegnen und ihr diese und andere Fragen zu stellen.
Roter Rollkragenpullover
Man hatte wenig fotografiert damals, sie wußte nicht einmal, wer überhaupt eine Kamera besaß. Aber sie meinte zu wissen, dass sie auch deshalb nicht fotografiert wurde, weil man nicht viel Zeit mit ihr verbrachte. Und ein ausgesprochen schönes Kind war sie auch nicht.
Da sie nie einen Kindergarten besucht hatte, gab es von ihr auch nicht die Bilder, auf denen sie mit den anderen halb nackten Kindern fröhlich im Schwimmbassin herumsprang. Solche Fotos gab es von dem kleinen Bruder. Von ihr gab es immerhin ein Schulbild. Eines, das die Eltern gekauft hatten. Ein Schwarz-Weiß-Bild, fotografiert vom Profifotografen, abgezogen auf dickem Papier, 13 mal 18 Zentimeter groß.
Darauf zu sehen war ein kleines Mädchen in einem handgestrickten Rollkragenpullover, glatt rechts. Farbe unbekannt. Sie vermutet, dass er rot war. Denn rot waren damals alle ihre Sachen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie die Mutter jemals mit Strickzeug gesehen hatte. Die hatte nicht stricken können, schon gar nicht so etwas Kompliziertes wie einen Pullover. Wo kam er also her, dieser Pullover, den sie an einem Tag in der ersten Klasse getragen hatte. Es war naheliegend, dass die Großmutter den Pullover gestrickt hatte, denn die beherrschte, wie alle anderen Hausarbeiten, auch das Stricken. Sie war immer Hausfrau gewesen und hatte dies von der Pike auf gelernt.
Später, als sie selbst in der zweiten und dritten Grundschulklasse im Handarbeitsunterricht stricken musste, hatte die Großmutter ihre Handarbeiten oft nachgebessert und manchmal aus Mitleid komplett übernommen. Sie fühlte sich dann so unbegabt wie die Mutter, die all diese Dinge nicht konnte.
Vielleicht hatte die Schule Fotos dieser Art anlässlich des ersten Schultags in Auftrag gegeben. Dann müsste da aber ein Kind mit einer Schultüte im Arm zu sehen sein. Hier aber saß ein Mädchen in einem Rollkragenpullover glatt rechts gestrickt, wahrscheinlich rot, vor einem aufgeschlagenen Buch. Eine Topfpflanze ragte von links ins Bild. Sehr wahrscheinlich war es nicht der erste Schultag.
Hier wurde im Klassenzimmer das Lesen und das allererste Lesebuch inszeniert. Sie selbst saß da in ihrem selbst gestrickten, wahrscheinlich roten Pullover und einer kleinen Uhr am rechten Armgelenk und würdigte das vor ihr liegende Buch keines Blickes.
Stattdessen blickte sie in die Kamera, war ganz konzentriert auf den Akt des Fotografiertwerdens. Sieben Jahre war sie alt, sie war erst mit sieben eingeschult worden. Die Frisur sah so selbst gemacht aus wie der Pullover. Links waren die glatten Haare, die Großmutter nannte sie immer „fatzenglatt“, kürzer und endeten oberhalb des Ohrs, rechts waren sie etwas länger und gingen über das Ohr.
Der Pony war schief, wieder links kürzer als rechts. Wer hatte geschnitten? Die Großmutter jedenfalls, die eigentlich alles konnte, hatte nie Haare geschnitten. Man sah genau, dass einen Augenblick davor noch jemand mit einem Kamm und vielleicht mit Spucke nachgeholfen hatte. Das könnte die Großmutter gewesen sein. Weder hübsch noch glücklich sah das Schulkind aus, aber erwartungsvoll. Das wirklich bemerkenswerte an diesem Foto war, dass Geld dafür ausgegeben worden war, dass man Geld für ein Foto von einem Profi ausgegeben hatte. Für die Eltern waren normalerweise jedes Heft und jeder Stift ein Heft und ein Stift zu viel.
Das Gartenhaus
Er hatte ein Loch in der Stirn. Man erzählte sich, dass er zu Fuß den langen Weg von Russland bis nach Hause gelaufen sei. Vielleicht war er auch im Güterwaggon gekommen. Von ihm selbst hat man es nicht erfahren. Nie erzählte er irgendetwas. Nie erfuhr man, ob auf ihn geschossen worden war. Nie, ob er getötet hatte. Geschweige denn, ob er Angst gehabt oder geweint hatte. Und wie war das Loch in seine Stirn gekommen? Ich durfte nicht fragen.
Nur aus den Erzählungen der Mutter wusste ich, dass der Großvater erst lange nach Ende des Krieges nach Hause gekommen war, völlig abgemagert in einem viel zu großen, schwarzen Ledermantel. Und mit dieser vernarbten Delle in der hohen Stirn.
Die beiden Brüder der Mutter kamen noch kurz vor dem Krieg auf die Welt, die Mutter selbst und eine Schwester waren im Heimaturlaub gezeugt und in Abwesenheit des Vaters geboren worden. Nach seiner Rückkehr machte der Großvater weitere Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, so dass es insgesamt sieben waren. Eigentlich acht, aber eines ist bald nach der Geburt gestorben.
Er, der vor dem Krieg an einem Werktisch saß und Goldschmuck anfertigte und reparierte, arbeitete nach dem Krieg mit Hacke und Schaufel. Und auch diese Stelle beim städtischen Straßenbau hatte der Großvater nur bekommen, weil seine Familie kinderreich war.
Der Großvater bewirtschaftete einen Garten, den er von der Stadt gepachtet hatte. Er pflanzte Kartoffeln, Bohnen, Krautköpfe, gelbe Rüben, rote Beete, Kräuter und zu meinem großen Glück Erdbeeren an. Und es gab Apfel-, Zwetschgen- und Birnbäume. Und einen Quittenbaum. Dieser Garten hieß nicht Garten wie die Fläche hinter dem Haus, wo Salat, Beerensträuche und Blumen wuchsen. Er hieß »Gütle« und war ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt und gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Auch die Großmutter hätte dorthin radeln können, hat aber gar nie einen Fuß in diesen Garten gesetzt.
Da im Gütle gab es ein kleines gemauertes Haus. Es war drinnen mit Bildern aus der Praline und der Neuen Revue tapeziert. Frauen mit großen Busen, deren Brustwarzen nach oben zeigten, mit strahlend blauen Augen und langen blonden Haaren. Diese Frauen waren oben herum nackt, unten herum nur mit einem knappen Schlüpfer bekleidet.
Der Großvater hatte sie aus den Heften heraus gerissen, die er sich regelmäßig an der Tankstelle, ein paar Meter die Straße runter, holte. Solche Frauen gab es in meiner Familie nicht. Die Tanten und die Mutter waren braunhaarig und hatten kleine Brüste, die Großmutter war klein und füllig.
Obwohl ich die Lieblingsillustrierten des Großvaters, von denen die aktuellsten immer auf dem Couchtisch im Wohnzimmer auslagen, anschauen durfte, durfte ich das Gartenhaus nie betreten. Niemand außer ihm selbst ging da hinein. Er selbst aber verschwand darin und kam stundenlang nicht mehr heraus. Manchmal stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schaute durch das kleine Fenster hinein. Viel konnte man nicht erkennen, denn die Scheiben waren schmutzig und voller Spinnweben.
Ein Tisch, ein Stuhl, eine leere Bierflasche, viele nackte Frauen.
Und er selbst saß am Tisch und hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt.

AHA, AHA, AHA*
Zwischen den Fingern, um die Daumen herum,
Hände waschen, Hände waschen.
Weg mit dem Virus, weg von mir.
Geh weg. Schleich di. Fick dich.
Viel Schaum und zweimal Happy Birthday.
Hahaha.
Die Seife geht aus.
Aus.
Hahaha.
Wo ist der Hausschlüssel.
Hab ich die Maske.
Ist der Einkaufswagen desinfiziert.
Die anderen.
Halten die Abstand, sind die gesund, machen die gut mit.
Ich lasse sie nicht an mich heran.
Weg von mir.
Hahaha.
Keine Nähe.
Selbstgewählt.
Fremdbestimmt.
Sich zurückziehen, sich abschotten.
Nicht gemeinsam essen, trinken, feiern,
nicht reisen.
Lockdown. Und noch ein Lockdown.
2020 eine Nullnummer. Aus dem Leben streichen.
Alte sterben wie Fliegen.
Junge fühlen sich unsterblich.
Rettung naht, der Impfstoff kommt.
Hahaha.
Alles wird gut.
Hahaha.
Klage nicht!
*Die Corona-Formel im Jahr 2020: AHA = Abstand + Hygiene + Alltagsmaske
Weißensteiner Straße 184

Wenn ich mit schmeichelnder Stimme »bsss bsss bsss, Mohrle komm, Mohrle komm, bsss, bsss, bsss, Mohrle komm, komm, komm« rief, kamen zwei Katzen angerannt. Beide hießen Mohrle. Schwarze Katzen gab es nie, die brachten Unglück. Warum trotzdem alle Mohrle hießen, erfuhr ich nie. Wenn die Katzen erkannten, dass nur ich, das Kind, mit leeren Händen dastand, kamen sie nicht näher. Ich war enttäuscht, ich hätte sie so gerne gestreichelt.
Was ist die früheste Erinnerung an den Ort meiner Kindheit? Ich meine nicht die Geschichten, die einem so oft erzählt werden, bis sie einem wie die eigene Erinnerung vorkommen. Ich meine das, was ich als Kind erlebt und mit meinen Sinnen wahrgenommen habe und heute noch erinnere.
Eine einfach zu erklärende Heimat habe ich nicht. Nicht mehr. Zumindest stellen sich keine heimatlichen Gefühle ein, wenn ich heute durch die Straßen der Stadt gehe, in der ich geboren wurde. Geblieben sind nur Fetzen der Erinnerung, verwischte Ereignisse, verblasste Gesichter.
Den hohen Zaun gibt es noch. Wie damals bewegt sich auf der einen Seite des Zauns der Verkehr stadtauswärts in die nahe gelegenen Dörfer, stadteinwärts aus den Dörfern zurück ins Zentrum der mittelgroßen Stadt. Auch die Bushaltestelle gegenüber ist noch da. Der Verkehr ist dichter geworden und lauter. Und die Häuserblocks gegenüber, die jetzt noch da stehen, wo sie früher schon standen. Viel früher noch waren dies Holzbaracken. Baracken, in denen im und nach dem Krieg Flüchtlinge unterkamen. Vor denen, die mit dem Rucksack gekommen waren, hat man mich als Kind immer gewarnt. Ich fand an Rucksäcken nichts schlimmes, mit Eva durfte ich trotzdem nicht spielen. Heute sehen die Wohnblocks freundlicher aus, haben angebaute Balkone, und da hängen Kästen mit roten Geranien, blauen Petunien, lustigen Fröschen mit Glupschaugen und Porzellanenten mit Strohhüten.
Auf meiner Seite des Zauns gab es keine Spielkameradinnen, dafür eine große Blumenwiese. Ich liebte den Geruch und die Farben der gelben, blauen, knallorangen und roten Blumen, deren Namen mir niemand sagte. Auch den Löwenzahn, den wir Bettscheißer nannten, mochte ich, obwohl der weiße Milchsaft aus den Stängeln grässliche Spuren auf der Hose hinterließ. Besonders gerne pflückte ich einen bunten Strauß für die Großmutter, die ihn dann ohne große Freude entgegennahm, weil für sie alles, was aus dem Garten kam, irgendwie mit Arbeit verbunden war. Manchmal hat der Großvater den Blumen die Köpfe abgeschnitten, bevor ich sie pflücken konnte. Er brauchte Futter für seine Tiere.
Die Blumenwiese war eine große unbebaute Fläche neben dem Haus. Hinter dem Haus gab es einen großen Hof, eine Garage und ein Gartenhaus. Man nannte es Gartenhaus, weil es im Garten stand, wo der Großvater Kopfsalat, Stachel- und Himbeeren, rote und schwarze Träuble und Blumen anpflanzte. Der alte Mann, der ein Stockwerk tiefer wohnte, hatte in seinem Garten auch Tomaten. Der Großvater hatte kein Glück mit Tomaten. Man nannte das Gartenhaus Gartenhaus, obwohl es gleichzeitig die Funktion eines Stalls hatte, denn außer den beiden Katzen wohnten dort auch ein paar Hühner und ein Hahn, die frei herumlaufen durften und Hasen, die in kleinen selbstgebauten Ställen untergebracht waren. Noch vor meiner Zeit hielt der Großvater Geißen und züchtete große bissige Hunde. Es roch nach Heu und Gras und nassem Fell und den Hinterlassenschaften der Tiere. Und das Gartenhaus war nicht nur Stall, sondern auch Werkstatt, denn der Großvater machte dort kleinere Reparaturen.
Daneben die Garage. Die Garage hieß Garage, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine Werkstatt handelte, in denen der Großvater größere Reparaturen mit größeren Werkzeugen an einer richtigen Werkbank machte. Gar nie stand ein Auto darin, denn die Großeltern konnten sich, glaube ich, kein Auto leisten. Womöglich besaß der Großvater überhaupt keinen Führerschein, die Großmutter hatte ganz bestimmt keinen. Die war schließlich Hausfrau, brauchte gar keinen Führerschein. Die Einkäufe erledigte sie mit dem alten Damenrad beim Sparladen zwei Straßen weiter. Die Werkstatt hieß jedenfalls Garage, weil sie ein Garagentor hatte und theoretisch hätte man ein Auto dort hineinstellen können. Es standen aber immer nur zwei Fahrräder und ein Fahrradanhänger darin.
Es gab klare Regeln.
Nur zwei Katzen durften leben, nur zwei wurden mit Küchenabfällen und mit verdünnter Milch gefüttert. Es waren kleine Rationen, denn sie sollten sich hungrig auf die Jagd nach Mäusen machen. Und nach Ratten, die vom Bach heraufkamen. Und zwei Katzen auch nur deshalb, weil ja immer damit gerechnet werden musste, dass eine auf der großen Straße vor dem Haus überfahren wurde. Wenn eine Katze Junge bekam, ahnte sie wohl, dass diese in Gefahr sein würden und versteckte sie im Gartenhaus ganz oben zwischen den Dachbalken oder ganz hinten im Heu. Ich wünschte mir immer, dass der Großvater die Kätzchen nicht finden würde. Es half nichts, der Großvater kannte alle Verstecke. Die überzähligen Kätzchen nahm der Großvater an den Hinterbeinen und schlug sie gegen das Garagentor oder tunkte sie in einen Eimer mit kaltem Wasser.
Die Hühner, denen er auf dem Hackblock, der vor der Garage stand, mit dem Beil den Kopf abgeschlagen oder die Hasen, denen er das Fell abgezogen hatte, wurden mit dem Kopf nach unten außen an das Garagentor gehängt.
Der Großvater fand nichts dabei, wenn ich zuschaute. Schließlich zog er seine Tiere groß, um sie zu verkaufen. Oder um sie zu essen. Dann schlachtete er sie, und die Großmutter machte einen Sonntagsbraten daraus. Mit viel Soße, Kartoffelsalat und grünem Salat aus dem Garten. Und handgeschabten Spätzle. Der Großvater legte großen Wert darauf, nur Selbstgeerntetes und Selbstgemachtes zu essen.
Zu Ostern durfte man im Hof mit den frisch geschlüpften Küken spielen, die so gelb, so flaumig, so weich waren. Einmal habe ich einem Biberle versehentlich ein Bein abgebrochen. Das war schrecklich. Der Großvater brachte es weg und sagte »pass in Zukunft besser auf«.
Ich liebte es, in Großvaters Garten zu sein. Den modrig-feuchten Geruch des Gartenhauses mochte ich, die unheimlichen, dunklen Ecken mit den großen Spinnweben, wo ich mich gut verstecken konnte, auch wenn es niemand gab, der mich hätte suchen und finden wollen. Ich liebte die dicken fetten Himbeeren und die gelbreifen Stachelbeeren, die ich mir direkt vom Strauch in den Mund stecken durfte. Ich liebte es, Parfum aus Rosenblättern zu kochen und Kränze aus Gänseblümchen zu binden.
Der Großvater war ein kräftiger Mann von knapp ein Meter neunzig, der mit nacktem Oberkörper in der sengenden Sonne den Garten umgrub, die Wiese mähte oder seine Ernte aus dem Gütle auf dem Anhänger hinter seinem Fahrrad herzog. Im Sommer thronte er samstags nur mit einer kurzen Hose bekleidet und braun gebrannt inmitten seiner prächtig blühenden Rosenbüsche auf einer Gartenbank im Garten hinter dem Haus, von den Damen aus der Nachbarschaft umgeben. Sie hingen an seinen Lippen, während die Großmutter Kaffee und selbst gebackenen Apfel-, Zwetschgen- oder Birnenkuchen servierte, den sie über zwei Treppen und den ganzen Hof nach hinten schleppte. Im Winter saß der Großvater samstags in einer dicken Wollweste mittig auf der Wohnzimmercouch, Neue Revue und Praline immer griffbereit vor sich auf dem Couchtisch, das Farbposter mit den Camarguepferden, die spritzend durchs Wasser galoppierten, über sich. Er hatte dieses »Gemälde« auf eine Holzplatte aufgezogen, und weil es ihm ein bisschen verrutscht war, hatte er an der Ecke links unten mit grüner Holzfarbe, die vom Zaunstreichen übrig geblieben war, nachgebessert. Auch in seinem Wohnzimmer hielt er Hof, auch hier scharte er die Nachbarinnen, Frauen, die keinen Mann abbekommen hatten oder deren Männer im Krieg geblieben waren, um sich. Während er auf dem Sofa saß, mittig, damit sich niemand neben ihn setzen konnte, sich dort von der Großmutter Kaffee und Kuchen servieren ließ, sammelten sich die Damen um den Esszimmertisch, der im gleichen Zimmer stand und ließen sich dort bedienen. Die Frauen kamen als Freundinnen der Großmutter, lauschten aber dem Großvater und schienen seine Geschichten aufregend zu finden. Er erzählte vom alljährlichen Ausflug mit dem Geißenzuchtverein, seinen neuen Düngemethoden mit Schafsmist und davon, welche Berge er in diesem Jahr geerntet hatte. Sie bewunderten seine Männlichkeit, seine Größe, sein volles schwarzes Haar, den flachen Bauch. Über ihren eigenen Kummer redeten sie nicht. Auch ging es nie um Politik. Dem leckeren Kuchen waren die Frauen nicht abgeneigt, der Großmutter aber schenkten sie wenig Beachtung. Im Gegenteil: Immer wieder wurde halb im Scherz, halb im Ernst die Frage in den Raum gestellt, warum diese kleine, dicke Frau diesen großen attraktiven Mann abbekommen hatte.
Die Großeltern lebten ihr Leben lang, vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg in dieser Mietwohnung am südlichen Ende der Stadt. Eng war es da. Die kleine Dreizimmerwohnung ohne Badezimmer, in der einmal neun Personen gelebt hatten, die zwei alten Fahrräder und der Keller voller Vorräte waren nichts zum Herzeigen. Ich fand es gar nicht eng da. Der Garten war riesig, die Blumenwiese auch. Den wohligen Geruch meiner Großmutter, die immer nach Kuchen und frischer Wäsche roch und den Duft der Blumen meine ich noch zu riechen. Und den Geschmack der reifen Beeren zu schmecken.
Am Ende ihres Lebens brachte man erst den Großvater, später die Großmutter einfach über die Straße. Denn auf der anderen Seite des Zauns und der großen Straße befanden sich nicht nur die Wohnblocks und das Gütle, sondern auch der Friedhof.
Seit die Großeltern tot sind, gibt es diesen Ort meiner Kindheit nicht mehr. Obwohl das Haus Weißensteiner Straße 184 noch immer da steht, wo es damals stand. Gartenhaus und Garage wurden durch ein weiteres Wohnhaus ersetzt. Unbekannte Menschen leben da. Trotz der hohen Quadratmeterpreise gibt es die unbebaute Fläche neben dem Haus noch, die Blumenwiese aber ist verschwunden. Nur noch Gras steht da. Und das Gütle wurde von dem um ein Vielfaches gewachsenen Friedhof verschluckt.
Bilder verblassen. Nur die ungefähre Erinnerung an eine verschwundene Welt bleibt zurück. Ein paar Spuren, keine Fotos. Fotografiert hat man damals nicht.
An Samstagen bekam ich den Auftrag, mit dem Messer das Unkraut zwischen den Wegplatten herauszukratzen. Oder die Erdbeeren im Gütle mussten geerntet werden. Ungeliebte Einsätze, bei denen man auf dem Boden herumkriechen musste. Und diese Beeren durften nicht in meinem Mund landen, sondern mussten auf den Küchentisch der Großmutter. In der kleinen Küche, in die sie gerade so hineingepasst hat, wusch und putzte sie alles, was aus dem Garten kam, und kochte es ein. Weckgläser wurden gefüllt und hinunter in den Keller getragen. Da gab es Himbeer- und Erdbeermarmelade, Quitten- und Träublesgelee, Zwetschgenkompott, Apfelbrei, Stachelbeeren in Zuckerwasser, eingelegte Bohnen und saure Gurken en masse. Wenn ich das Messer nicht richtig ansetzte, in seinen Augen zu schlampig arbeitete oder heimlich eine Beere in den Mund steckte, bekam ich vom Großvater ein paar hinter die Ohren. Erledigte ich meine Sache gut, bekam ich am Sonntag, wenn nicht die Nachbarinnen, sondern die Familie zu Kaffee und Kuchen da war, fünfzig Pfennig für ein Vanilleeis mit Schokoladenüberzug und wurde zur Esso-Tankstelle ein Stück die Weißensteiner Straße hinunter geschickt. »Ein Mohrle bitte«, sagte ich dann zum Tankwart und legte mein selbst verdientes Fuffzgerle auf den Tresen.
Sonntage
Wenn die Mutter lange genug gemault hatte, »du hast ja nie Zeit für uns, nie machst du etwas mit deinen Kindern«, wenn sie immer weiter machte und davon sprach, dass »die anderen viel mehr schaffen, obwohl die kein Geschäft haben«, wirkte das zwar nicht sofort, aber die Wiederholung dieser Vorwürfe in verschiedenen Varianten ließ den Vater mürbe werden und ihn einsehen, dass er um des Friedens willen einen Sonntag mit Frau und Kindern verbringen sollte. Und da die Mutter nicht zum Fußball wollte, musste der Vater mit zu den Großeltern. Da wurde dann im Kreis der großen Familie Kaffee getrunken und der selbst gebackene Kuchen der Großmutter gegessen. Gerne wurde dabei über Familienangehörige geredet, die nicht anwesend waren. Während man normalerweise fragte »und wie geht es denn dem Hubert?« und »wie laufen denn die Geschäfte?«, immer in der Hoffnung, dass es dem Hubert und auch den Geschäften nicht so gut ging, fragte in seiner Anwesenheit niemand, wie es ihm ging, und auch nach den Geschäften fragte keiner. Überhaupt wurde weniger gesprochen und weniger gefragt, wenn der Vater anwesend war. Das hing auch damit zusammen, dass er selbst nie ein Wort sagte. Er saß stumm auf dem Sofa, trank seine zwei, drei Tassen schwarzer Kaffee, aß seine zwei, drei Stück Kuchen und war in Gedanken weit weg auf dem Fußballplatz.
Ganz selten gab es die, von den Kindern gefürchteten, ganz besonderen Sonntage, das waren die, an denen sie nicht an das andere Ende der Stadt zu den Großeltern fuhren, sondern einen sogenannten Ausflug machten. Ausflug bedeutete, dass man mit dem Auto über Land fuhr. Am allerliebsten saß der Vater auf seinem Motorrad, am Zweitliebsten saß er am Steuer seines Ford Taunus. Er liebte es, rasant und rücksichtslos zu fahren, Geschwindigkeitsbegrenzungen interessierten ihn nicht. Dass den beiden Kindern auf dem Rücksitz davon speiübel wurde, interessierte ihn genauso wenig. Er sagte, dass er den Ausgleich brauche und die Mutter sagte nichts dazu. Sie, die eigentlich nie den Mund halten konnte, saß an diesen ganz besonderen Sonntagen schweigend auf dem Beifahrersitz und hielt sich verzweifelt am Haltegriff fest. Man fuhr irgendwo hin, egal wohin, Hauptsache es gab einen Landgasthof, wo man günstig essen konnte.
Am Ziel angekommen, machten sie einen kleinen Spaziergang. Genau genommen spazierten sie vom Parkplatz zum Gasthof. Die Mutter nutzte das gemeinsame Essen, um all ihre Vorwürfe noch einmal vorzutragen: Dass der Vater zu viel schlafe und zu wenig arbeite. Dass er sich zu wenig um sein Geschäft kümmere. Der kleine Bruder wollte partout Wiener Schnitzel. Wiener Schnitzel bekam er aber gar nie, weil es den Eltern zu teuer war. Der kleine Bruder wollte dann gar nichts essen, nahm aber ein Eis und spielte für den Rest des Tages die beleidigte Leberwurst. Vom Kampf um das Wiener Schnitzel einmal abgesehen, versuchten der kleine Bruder und sie sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Denn an diesen ganz besonderen Sonntagen kam der ewige Konflikt zwischen den Eltern wieder zutage, der darauf beruhte, dass der Vater geerbt hatte, und dass es ganz allein sein Geschäft war. Die Mutter hatte eingeheiratet und nichts zu sagen. Und je weniger die Mutter zu sagen hatte, umso mehr sagte sie.
Ihr selbst war an solchen Sonntagen schlecht. Schlecht von der Fahrweise des Vaters, schlecht vom Essen – sie nahm immer etwas, das nicht so viel kostete, meistens Maultaschen, die sie nicht wirklich mochte – und schlecht von den Auseinandersetzungen der Eltern.
Gottseidank hatte am darauffolgenden Sonntag alles wieder seine Ordnung: Der Vater und der kleine Bruder waren beim Fußball, sie selbst und die Mutter saßen am Kaffeetisch der Großeltern. Sogar die Geschichten über Familienangehörige, die nicht anwesend waren, mochte sie dann.
